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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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Marja Iwanowna möglicherweise Briefe in ihrem Gewahrsam habe.
    Und schließlich noch ein sonderbarer Umstand: wieder hatte er Wort für Wort meinen Gedanken (hinsichtlich des Lebens von dreifacher Länge) wiederholt, den ich kurz vorher Krafft gegenüber ausgesprochen hatte, und, was die Hauptsache war, mit meinen eigenen Worten. Die Übereinstimmung der Worte war ja zwar wieder nur ein Zufall, aber dennoch: wie gut kannte er das innerste Wesen meiner Natur, was besaß er für einen scharfen Blick, was für ein Ahnungsvermögen! Aber wenn er das eine so gut verstand, warum verstand er dann das andere so gar nicht? Und hatte er wirklich nicht geschauspielert, sondern war er tatsächlich unfähig, zu begreifen, daß ich nicht nach dem Wersilowschen Adel trachtete, daß das, was ich ihm nicht verzeihen konnte, nicht meine Geburt war, sondern daß es mich mein ganzes Leben lang nach Wersilow selbst verlangt hatte, nach dem ganzen Menschen, dem Vater, und daß dieser Gedanke schon in mein Blut übergegangen war? Konnte ein so feinfühliger Mensch wirklich so stumpf und verständnislos sein? Wenn das aber nicht zutraf, warum brachte er mich dann in Wut, warum verstellte er sich?

Achtes Kapitel
     
I
     
    Am nächsten Morgen gab ich mir Mühe, möglichst früh aufzustehen. Gewöhnlich standen wir gegen acht Uhr auf, das heißt ich, meine Mutter und meine Schwester; Wersilow gönnte es sich, bis halb zehn im Bett zu bleiben. Punkt halb neun brachte mir meine Mutter immer den Kaffee. Aber diesmal schlüpfte ich, ohne auf den Kaffee zu warten, Punkt acht Uhr aus dem Hause. Ich hatte mir schon am vorhergehenden Abend einen allgemeinen Operationsplan für diesen ganzen Tag zurechtgelegt. Trotz meiner leidenschaftlichen Entschlossenheit, unverzüglich an die Ausführung dieses Plans zu gehen, fühlte ich doch schon, daß er gerade in den wichtigsten Punkten sehr viel Unsicheres und Unbestimmtes enthielt; dies war der Grund, weswegen ich mich fast die ganze Nacht in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen befunden, geradezu phantasiert, schrecklich viel geträumt und fast nie richtig geschlafen hatte. Trotzdem war ich beim Aufstehen munterer und frischer als je zuvor. Besonders war ich darauf bedacht, ein Zusammentreffen mit meiner Mutter zu vermeiden. Ich hätte mit ihr doch über nichts anderes reden können als über ein gewisses Thema und fürchtete, irgendeine neue, unerwartete Empfindung könne mich von den ins Auge gefaßten Zielen ablenken.
    Der Morgen war kalt, und auf allem lag ein feuchter, milchiger Nebel. Ich weiß nicht warum, aber der frühe, geschäftige Petersburger Morgen gefällt mir immer trotz seines überaus häßlichen Aussehens, und dieser ganze an sein Tagewerk eilende, egoistische, stets nachdenkliche Menschenschwarm hat für mich um acht Uhr morgens etwas besonders Anziehendes. Besonders liebe ich es, unterwegs in der Eile entweder selbst jemanden nach etwas Sachlichem zu fragen oder von ihm gefragt zu werden: sowohl die Frage als auch die Antwort sind immer kurz, deutlich, unmißverständlich; sie werden gewechselt, ohne daß man stehenbleibt, und fast immer in freundlichem Ton, und die Bereitwilligkeit zum Antworten ist größer als zu irgendeinerandern Tageszeit. Der Petersburger wird zu Mittag und gegen Abend weniger mitteilsam und neigt dann sogar dazu, einen auszuschimpfen oder auszulachen; ganz anders ist er frühmorgens, noch vor der Arbeit, in der nüchternsten, ernsthaftesten Tageszeit. Das habe ich beobachtet.
    Ich begab mich wieder auf die Petersburger Seite. Da ich zwischen elf und zwölf unter allen Umständen wieder an der Fontanka bei Wassin sein mußte (der am häufigsten um zwölf Uhr zu Hause anzutreffen war), so beeilte ich mich und hielt mich nirgends auf, obgleich ich die größte Lust hatte, irgendwo Kaffee zu trinken. Zudem mußte ich auch Jefim Swerjew unbedingt noch zu Hause treffen; ich ging wieder zu ihm und wäre in der Tat beinahe zu spät gekommen; er hatte seinen Kaffee schon ausgetrunken und schickte sich an fortzugehen.
    »Was führt dich denn so oft zu mir?« sagte er zur Begrüßung, ohne aufzustehen.
    »Das werde ich dir sogleich erklären.«
    Jeder frühe Morgen, und so auch der Petersburger, übt auf die menschliche Natur eine ernüchternde Wirkung aus. Mancher flammende, phantastische Nachtgedanke verflüchtigt sich beim Morgenlicht und in der Morgenkälte vollständig, und es ist mir selbst manchmal begegnet, daß ich morgens mit Selbstvorwürfen und Scham

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