Der Junge aus dem Meer - Roman
defensiv und streckte meine Schultern vor. »Ich erkunde hier nur die Gegend.«
Der Junge kam näher. »Keine gute Idee, hier am Siren Beach alleine herumzustromern«, sagte er. Seine Stimme war tief, doch ein wenig heiser, und sein Südstaatenakzent unterschied sich von CeeCees und dem der anderen auf eine Art, die ich nicht genau bestimmen konnte.
»Wieso?« Ich war plötzlich genervt, weil dieser Typ aus dem Nichts aufgetaucht war und meine Gedankengänge unterbrochen hatte.
Ich spürte, dass meine Geduld auf Sparstrom heruntersank. »Wegen der ›Seeschlangen‹?«, fragte ich und malte Anführungszeichen in die Luft.
»Dann hast du schon von den Seeschlangen gehört?« Er stand jetzt direkt vor mir und ein Lächeln spielte um seine vollen Lippen. Die Farbe seiner Augen war ein klares, strahlendes Grün, ungetrübt von jeglichen Braun oder Grau.
»Ich weiß, dass sie dummes Zeug sind«, gab ich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Junge ließ seinen Blick über mein Gesicht wandern und mein Herz schlug Purzelbäume. Was dachte er bloß? Erst T. J. und jetzt er.
In die innere Funktionsweise von Jungenschädeln vorzudringen, war eine entmutigende Aufgabe, und
zwei
Jungen innerhalb einer Stunde waren für eine Anfängerin wie mich völlig unmöglich.
Andererseits hatte mich T. J. vorhin auf der Strandpromenade nicht so intensiv angeblickt, wie es dieser Junge jetzt tat. Beinahe gegen meinen Willen erinnerte ich mich an die merkwürdigen Blicke, die Greg – der zottelhaarige, bebrillte Vorsitzender-des-Schachteams-Greg – mir im letzten Februar zugeworfen hatte, als ich ihm noch Nachhilfestunden in Physik erteilte. Dann, eines Abends, als ich ihm gerade die Gesetze des Elektromagnetismus erklärte, küsste er mich, und ich verstand, was diese Blicke bedeutet hatten. Was mich echt total aus der Fassung gebracht hatte.
»Du bist zum ersten Mal auf Selkie, stimmt’s?«, fragte der Junge in leicht flapsigem Tonfall.
Aus irgendeinem peinlichen Grund ließen die Worte
zum ersten Mal
meine Haut feuerrot werden. »Ist das so offensichtlich?«, erwiderte ich und lachte nervös.
»Nun, mir bist du jedenfalls aufgefallen«, antwortete der Junge. Sein Lächeln wurde breiter.
»Miranda! Miranda, was treibst du denn?«
Gleichermaßen erleichtert und enttäuscht wandte ich mich der Stimme meiner Mutter zu. Sie kam über den Sand gelaufen, hielt ihre Sandalen in einer und den Saum ihres Kleides in der anderen Hand. Ihr Gesicht war gerötet, so wie schon zuvor auf der Party.
»Wie in
Der Sturm
«, sagte der Junge hinter mir, so leise allerdings, dass ich ihn vor dem Geräusch der brausenden Wellen fast nicht hören konnte.
»Wie bitte?«, fragte ich und sah mich nach ihm um.
»Miranda ist eine Figur aus
Der Sturm
. Das Shakespeare-Stück«,erklärte er und lächelte zögerlich. Seine Wangen hatten Grübchen.
»Ich versuche, Shakespeare so gut es geht zu vermeiden«, erwiderte ich und war überrascht, dass ein so rau aussehender Junge irgendetwas über verstaubte Literatur wusste.
»Das ist ein Fehler«, sagte er, als Mom schließlich völlig außer Atem zu mir herübergekommen war und stehen blieb.
»Miranda, was ist bloß in dich gefahren?«, blaffte sie wütend und gänzlich entgegen ihrer üblichen Ausgewogenheit. Ihre Augen waren sehr groß. »Warum bist du einfach verschwunden? Ich habe mir Sorgen gemacht. Einer der Jungs aus CeeCees Clique hat mir gesagt, er habe dich in diese Richtung gehen sehen.«
T. J.?
, fragte ich mich.
»Tut mir leid«, erwiderte ich, war aber nicht in der Lage, meiner Mutter in die Augen zu blicken. Ich wusste, dass es völlig irrational war, aber sie kam mir plötzlich wie eine Fremde vor – eine Fremde, die sich mit gut aussehenden Männern amüsierte. »Ich wollte nur einen Spaziergang machen.«
»Einen Spaziergang?«, wiederholte Mom und zog angesichts des Jungen neben mir eine Augenbraue hoch. In ihrem Blick lag ein verdächtig dunkler Schatten. »Und wann wolltest du mir davon erzählen?«
»Du erzählst mir auch nicht alles«, murmelte ich und wünschte, wir hätten diese Unterhaltung nicht in Anwesenheit dieses Typen geführt.
Mom schien das Gleiche zu denken. »Entschuldigung«, sagte sie in forschem Tonfall zu ihm, zerrte an meinem Arm und zog mich in Richtung Strandpromenade.
Ich drehte mich um und sah, wie sich der Junge ein Stück Seil über die Schulter warf und uns beobachtete. Sein Gesichtsausdruckwar nicht zu deuten. Dann blickte ich wieder
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