Der Junge aus dem Meer - Roman
Sommer den Jahrmarkt am Ufer von Coney Island besucht hatten, war es mir vorgekommen, als wären die bärtigen Damen und Schwertschlucker lang vermisste Geschwister von mir.
»Wart’s ab«, versprach Leo mit einem schiefen Lächeln. Durch die Sonne strahlten seine Augen in einem noch stärker schillernden Grün, als sie für eine Sekunde in meine blickten. »Du kannst nicht gegen das Meer ankämpfen.« Dann zuckte er mit den Schultern und lief weiter. Erleichtert folgte ich ihm.
Doch sobald wir an den Sonnenanbetern vorbeigelaufen waren und die feuchten Sandhügel erreichten, die sich zum Wasser hinunterzogen, wurde mir klar, dass Leo recht hatte. Die unnachgiebige Strömung zog sich mit solch einer Heftigkeit zurück und brauste dann wieder heran, dass meine geliebten Chucks schnell völlig durchnässt waren. Leo schritt unbekümmert weiter, während das Wasser seine großen, sonnengebräunten Füße umspielte.
»Schon gut, schon gut, ich geb mich geschlagen«, seufzteich und blieb stehen. Wie könnte ich mich selbst als echte Forscherin bezeichnen, wenn ich nicht einmal … nun, nasse Füße bekommen wollte. Und irgendetwas an Leos entspannter Ausstrahlung sagte mir, dass ihm meine komischen Zehen wahrscheinlich egal waren. Vielleicht war es an der Zeit, mal etwas weniger kindisch mit meiner mangelnden Perfektion umzugehen.
Mit der Spitze des einen Fußes löste ich einen Turnschuh ab, find dann aber an zu taumeln und verlor das Gleichgewicht. Leo war augenblicklich neben mir und streckte seine Hand aus, um mich zu stützen.
Ich ergriff sie.
Seine Finger schlossen sich um meine; sie waren warm, jedoch rau und leicht schwielig. Ich blickte auf meine kleine, glatte und blasse Hand, die jetzt in seiner viel größeren lag, und mir wurde schwindelig. Plötzlich war ich froh, dass ich eine Maniküre bekommen hatte.
»Besser, stimmt’s?«, fragte Leo, als ich meinen anderen Sneaker wegkickte. Das angenehm warme Wasser rauschte heran und wirbelte um meine Knöchel. Zu meinem Entsetzen entdeckte ich, dass Leo direkt auf meine nackten Füße blickte. Mir stockte der Atem.
»Ja«, murmelte ich, zog meine Hand zurück und schnappte mir meine Chucks. Wie von selbst wackelten meine Zehen im Wasser, als seien sie erstaunt darüber, endlich frei zu sein.
»Dann lass uns mal eintauchen«, sagte Leo grinsend.
»Meinst du schwimmen?«, fragte ich verwirrt. Unser kurzes Händchenhalten und das Entblößen meiner Zehen hatten mich aus dem Konzept gebracht.
»Nein, ich meine, wir sollten die Tour beginnen«, erwiderte Leo lachend, während eine neue Welle gegen dasUfer klatschte und ein paar Seegraskringel um unsere Füße spülte. »Los geht’s«, fügte er hinzu, beugte sich hinunter und hob eine flache, mit kleinen Schlitzen überzogene Scheibe auf. »Schon mal einen lebenden Sanddollar gesehen, Frau Angehende Meeresbiologin?«
»Wie kommst du darauf, dass ich das werden möchte?«, forderte ich ihn heraus. Tatsache war, dass ich gar nicht genau wusste, welchem Wissenschaftszweig ich einmal folgen wollte – häufig sprachen mich die Gesetze der Physik und der Aufbau der Chemie viel mehr an als die rohen Aspekte der Biologie.
»Nun ja, heute im Zentrum haben deine Augen geleuchtet«, entgegnete Leo nüchtern, während er sich wieder erhob. Ich konnte spüren, wie er mich von der Seite ansah. »Du schienst … Leidenschaft auszustrahlen.«
Das Gefühl von Seekrankheit kehrte zurück. Ich hoffte, dass Leo nicht bemerken würde, wie meine Finger zitterten, als ich vorsichtig den ganz besonderen Seeigel berührte. Ich war in der Anwesenheit von Jungs nie sonderlich entspannt, aber immerhin war ich während des Gesprächs mit T. J. gestern einigermaßen ruhig geblieben. Wieso gab mir Leos Nähe dieses Gefühl von fehlendem Halt?
»Nein, so nah hab ich noch keinen gesehen. Er ist toll«, erwiderte ich schließlich und tat so, als sei ich völlig mit der Betrachtung des Sanddollars beschäftigt.
»Ich zeig dir was noch viel Tolleres«, sagte Leo. Das Ganze schien ihm Spaß zu machen. Seine Augen blickten lebhaft umher, während er den Sanddollar an die Stelle zurücksetzte, wo er ihn gefunden hatte. »Siehst du diese winzigen Löcher im Sand?« Er zeigte, und ich blickte hinunter, um die mysteriösen Nadeleinstiche zu betrachten. »Schwimmgarnelen«, erklärte er. »Lustige kleine Kerle. Siegraben sich in den Sand ein, um dort zu essen und sich zu verstecken.«
»Klingt nicht nach dem typischem Verhalten von Garnelen«,
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