Der Junge aus dem Meer - Roman
Da gibt’s dieses Zitat, an das ich immer denken muss: ›Das Leben ist wie die Brandung, also gib dich ihr hin wie das Meer.‹ Ist da nicht was Wahres dran?«
»Wer hat das gesagt?«, fragte ich, immer noch gereizt, weil ich hingefallen war. »Shakespeare?«
»Nein«, gab Leo zurück. Am Rande meines Gesichtsfelds konnte ich ihn lächeln sehen. »Es stammt aus einem Film, den ich mal gesehen habe.«
Das Meer zu unseren Füßen kam und ging, und die Sonne hatte ihren Abstieg hinter den Horizont begonnen. Seemöwen kreischten im Vorbeiflug, und ich spürte die Wärme von Leos Arm neben meinem. Wenn es in meinem Leben je einen Moment gegeben hatte, der wie eine Filmszene wirkte, dann war es dieser. Ich drehte meinen Kopf zu Leo und fragte mich, ob er wohl dasselbe dachte. Er erwiderte meinen Blick, sein Ausdruck war jetzt ernst.
»Miranda«, sagte er. Noch nie zuvor hatte mein scheußlicher Name so wunderbar geklungen, noch nie zuvor waren seine Silben mit so viel Bedacht ausgesprochen worden. »Ich freue mich wirklich, dass du in diesem Sommer nach Selkie gekommen bist.«
»Ich freue mich auch«, sagte ich – oder setzte vielmehr dazu an, denn plötzlich lehnte sich Leo zu mir herüber, und ich konnte den Geruch des Sandes nicht mehr von dem seiner Haut unterscheiden.
Lass dich einfach treiben,
dachte ich.
Und überließ mich seinem Kuss.
Der Kuss begann sanft. Leos salzige Lippen strichen leicht über meine, sein süßer klarer Atem kitzelte mich. Jeder Zentimeter von mir wartete mit kribbelnder Bereitschaft. Ich dachte nichts. Ich stellte keine Fragen.
Als Leo den Kuss vertiefte, schloss ich die Augen. Ich fühlte sein sandiges Haar meine Wangen streicheln; seine Finger suchten und erforschten. Begierig erwiderte ich seine Zärtlichkeiten und berührte sein Gesicht.
Leos Kuss wirkte lässig, als habe er alle Zeit der Welt; ein Kuss so heiß und langsam wie der Sommer selbst. So ganz anders als Gregs Küsse, die vergleichsweise abgehetzt und ungeschickt gewirkt hatten. Ich spürte Leos warme Zunge in meinem Mund und verstand plötzlich, warum einigeMenschen manchmal ganz verrückt danach wurden und alles für einen Kuss riskierten.
Wir beendeten den Kuss im selben Moment, wichen voneinander und öffneten die Augen. Mein Kopf drehte sich, und ich konnte nicht aufhören zu lächeln. War das wirklich gerade passiert? War es wirklich mir passiert?
»Ich wollte das schon tun, seitdem ich dich gestern Nachmittag gesehen habe«, bemerkte Leo und lächelte ebenfalls. »Hier mitten auf dem Strand.«
Ich blickte über den ruhig daliegenden Sand und die leeren Dünen, auf denen sich Schatten zu bilden begannen. Plötzlich wurde mir klar, wie spät es war. Mein guter alter und verlässlicher Sinn für Vernunft kehrte zurück, und ich stand auf. Meine Lippen fühlten sich von Leos Kuss noch ganz weich an, und ich war froh, dass meine Knie stabil genug waren, um mich aufrecht zu halten.
»Ich hab mein Handy nicht dabei«, erklärte ich Leo und schüttelte angesichts meiner Vergesslichkeit und mangelnden Logik den Kopf, während ich probierte, den feuchten Sand vom Hinterteil meiner Hose zu bürsten. Ich wurde unruhig. »Meine Mom wird sich Sorgen machen, wenn ich nach der Dunkelheit noch draußen bin und nicht anrufe. Wir sind aus New York, verstehst du, und sie … sie macht sich eben Sorgen.«
Selbst wenn ich mein Telefon dabeigehabt hätte – was würde ich jetzt zu Mom sagen?
Tut mir leid, aber du erinnerst dich an den Jungen, mit dem ich gestern gesprochen habe? Ja, wir knutschen hier am Strand herum. Mach dir keine Gedanken.
Niemals.
»Ach, da kommst du her?«, fragte Leo und sprang so schnell auf die Füße, dass ich gerade mal blinzeln konnte. Erfasste nach meinem Arm, seine großen Augen waren voller Neugier. »Erzähl mir was darüber. Was über dich.«
»Ich kann jetzt nicht«, sagte ich und trat ein paar Schritte zurück, auch wenn mein Herz sich danach sehnte zu bleiben. »Meine Mom …«
»Okay, okay«, gab Leo lachend zurück und hob seine Hände. »Ich hab’s kapiert. Du bist ein braves Mädchen.« Ein spöttischer Ton hatte sich in seine Stimme geschlichen, und sein Mund verzog sich zu einem rätselhaften Grinsen. Ich fühlte leichten Zorn in mir hochkochen, weil ich nun auf diese beschränkte Rolle festgelegt worden war – auch wenn sie durchaus mit mir übereinstimmte.
»Vielleicht bin ich das«, erwiderte ich, zwängte meine Füße zurück in die feuchten Chucks und beugte mich nach
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