Der Junge aus dem Meer - Roman
machst du gut so«, lobte Leo und nickte dem Jungen zu. »Ich glaube, er mag dich. Maurice – so heißt er – ist manchmal etwas misstrauisch gegenüber Fremden.«
Kann ich verstehen
, dachte ich mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Ich war beeindruckt, wie locker Leo mit den Kindern umging. Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich wohl mit leichenbitterer Miene Fakten über die Anatomie kaltblütiger Tiere erläutert.
»Also«, sagte Leo und ließ seinen Blick über die Kinder gleiten, deren Augen so groß wie Untertassen geworden waren, »kann mir irgendwer die einzigen beiden Orte auf der Welt nennen, wo Alligatoren in natürlicher Umgebung vorkommen?«
»Nordamerika und China.« Die Antwort platzte ganz automatisch aus mir heraus. Ich biss mir auf die Lippe. Wieso musste sich Studiosus-Miranda ausgerechnet
jetzt
zu erkennen geben? »Äh, ich zeichne fast jede Sendung vom Discovery Channel auf«, fügte ich unbeholfen hinzu und versuchte, den glotzenden Blicken der Eltern und Kinder auszuweichen.
Leos Augen bildeten kleine Fältchen am Rand, als er lächelte, und seine Grübchen vertieften sich. »Vielen Dank, Miranda«, sagte er. »Das ist korrekt.«
Er erinnert sich an mich.
Wieso ließ diese Tatsache meinen Magen einen Salto machen? Einen doppelten?
Ich fand, dass jetzt wohl ein guter Zeitpunkt gekommen war, um die Schnappschildkröten zu besuchen. Doch irgendetwas ließ mich wie angewurzelt an meinem Platz stehen bleiben. Als die Kinder sich an mir vorbeidrückten und mit ihren Eltern im Schlepptau weiteren Vergnügungen entgegenliefen, wurde mir klar, dass nur noch Leo und ich bei den Alligatoren waren.
Leo sah mich kurz an. Dann blickte er auf das Neuronen-Symbol, das auf mein T-Shirt gedruckt war – das Logo meiner Schule. Schließlich schaute er auf den Alligator auf seiner Hand hinunter.
»Hallo noch mal«, wagte ich mich mit brüchiger Stimme aus der Deckung. Als Leo nicht gleich antwortete, stockte mir der Atem. Wieso hatte dieser Junge so eine komische Wirkung auf mich?
»Was meinst du, Maurice?«, sagte Leo schließlich an den Alligator gerichtet. »Du findest, dass sie das schlaueste Mädchen ist, das uns bisher hier im Zentrum besucht hat?«
Mein Herz pochte, doch ich spürte auch einen Anflug von Irritation. Leute, die die Grenze zwischen Tieren und Menschen verwischten, gingen mir auf die Nerven.
»Gibst du immer vor, dass Alligatoren mit dir kommunizieren können?«, fragte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Mit einem müden Lächeln erwiderte Leo meinen Blick. »Ich gebe überhaupt nichts vor.«
»Ach, tatsächlich? Und was erzählt dir Maurice hier sonst noch alles?«
Verschmitzt zog Leo eine Augenbraue hoch. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?« Als ich nickte, kamer einen Schritt näher. Entgegen meiner Absicht nahm ich einen tiefen Atemzug. Leo roch frisch und herb, so wie Regenwasser und Sand. Unpassenderweise fiel mir der Geruch von Greg Mitchums Deodorant ein.
»Er möchte gerne raus«, flüsterte Leo, während Maurice mich geduldig anzwinkerte. »Alle seine Kumpels wollen raus. Sie möchten frei herumlaufen.«
Ich schüttelte den Kopf und musste lachen. »Man braucht nicht mit Tieren zu reden, um das zu erraten. Eine natürliche Umgebung ist immer wünschenswert.«
So wie er es schon gestern getan hatte, ließ Leo seinen Blick für einen langen Moment auf mir ruhen, so lang, dass ich spürte, wie meine Wangen knallrot wurden. Die schwach murmelnden Stimmen der anderen Leute im Raum klangen weit entfernt.
»Wenn du das so siehst«, sagte Leo schließlich, wandte sich ab und setzte Maurice zurück in das Becken mit seinen Brüdern, »dann solltest du an einem unserer Strandspaziergänge teilnehmen, bei denen wir die Meeresbewohner beobachten. Ich biete heute um sechs eine Tour an, gleich nachdem das Zentrum schließt.«
Ich stellte mir vor, mit Leo wieder am Siren Beach zu stehen, nur dass wir diesmal die Umgebung erkundeten und am Ufer nach Seeigeln und Muscheln suchten. Ein unkontrollierbares Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit.
»Das darf ich dann wohl als ein Ja verstehen?«, fragte er und wischte sich die Hände an seinen Shorts ab.
Ich nickte und versuchte, meinem Gesicht wieder einen ernsten Ausdruck zu verleihen. »Hast du das gestern, äh, auch gerade vorgehabt?«, fragte ich und richtete meinen Pferdeschwanz. »Eine Tour am Strand anbieten?«
Leo schüttelte den Kopf und kratzte seinen
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