Der Junge aus dem Meer - Roman
ich hatte sie nicht darauf angesprochen – ich war viel zu sehr damit beschäftigt, aus dem Küchenfenster zu starren und mich zu fragen, ob ich Leo wirklich wiedersehen würde.
Was nun dazu führte, dass am Strand jedes Mal mein Herz aussetzte und ich mir den Hals verrenkte, wenn irgendein braungebrannter, blonder Junge an meinem Handtuch vorbeigelaufen kam. Ein besonders grauenhafter falscher Alarm war in Gestalt von Virginias jüngerem Bruder ausgelöst worden, der vorbeikam, um sich einen Pfirsich-Fruchtshake zu holen, den Virginias Haushälterin in eine Kühlbox gelegt hatte.
Komm und such mich,
hatte Leo schließlich gesagt. Doch bis jetzt hatte ich ihn nicht gefunden.
»Arme Amelia«, seufzte Felice, deren Gesicht durch die Magie von Botox in ewiger Jugend erstarrt war. »Es
ist
aber in letzter Zeit auch wirklich nicht einfach, gutes Personal zu finden.«
Ich war so schockiert, dass sie tatsächlich – bar jeder Ironie – diese Worte geäußert hatte, dass ich ein Glucksen nicht unterdrücken konnte. In der Erwartung, dass sie ebenfalls lachte, sah ich zu Mom hinüber, doch zu meiner Überraschung nahm sie einfach nur einen Schluck von ihrem Fruchtshake.
Seufzend ließ ich meinen Kopf auf das Handtuch zurücksinken und sah in den mit Wolken besprenkelten Himmel hinauf. Ein Frisbee zischte über unsere Köpfe hinweg. Dann hörte ich, wie Felice zu Mom und Delilah sagte, dass sie mal schnell ins Wasser wolle, und sah durch meine dunklen Gläser zu, wie sie mit wippendem Strohhut und Flip-Flops an meinem Handtuch vorbei auf den Ozean zustapfte.
Ich konnte es nicht genau benennen, aber seit der Erben-Party kam mir Mom irgendwie anders vor. Sie hatte aufgehört, bissige Bemerkungen über Delilah zu machen, und heute Morgen hatte sie dankbar darauf verzichtet, Isadoras Sachen durchzusehen und war Delilahs Einladung gefolgt, mit ›den Damen‹ ein Sonnenbad zu nehmen.
Plötzlich kreischten CeeCee, Jacqueline und Virginia unisono auf. Ich war so auf Mom fixiert gewesen, dass ich die Unterhaltung der Mädels gar nicht mitbekommen hatte.
»Du
liebst
ihn«, verkündete Virginia und für eine Sekunde fragte ich mich, ob sie mit mir geredet hatte. Konnte sie von Leo erfahren haben?
Ich drehte meinen Kopf den Mädels zu, die sich nun auf ihre Ellbogen abstützten. Jacqueline verdrehte die Augenund wurde rot. Virginia musste von Macon gesprochen haben.
»Und ihr werdet
heiraten
«, tönte CeeCee, kicherte und leckte Pfirsichschaum von ihrem Strohhalm.
»Ich liebe ihn nicht«, erwiderte Jacqueline nüchtern und rieb ihre langen dunklen Beine mit Sonnencreme ein. »Er ist nur so eine Sommeraffäre. Der Reiz des Neuen, aber in ein paar Wochen kehren wir beide zurück in unsere eigenen, separaten Leben.«
Normalerweise hätte ich Jacquelines besonnener Erklärung applaudiert, doch als ich ihre Worte nun hörte, beschlich mich eine seltsame Traurigkeit.
»Aber Jackie, seit wann bist du denn so pessimistisch?«, stöhnte CeeCee. Gejagt von braungebrannten Jungs in Neoprenanzügen kam eine Gruppe kreischender Mädchen in Bikinis vorbeigerannt und deckte CeeCees Handtuch mit Sand ein. Sie blickte ihnen finster hinterher.
»Nun, Macon allein ist gar nicht so schlimm«, sagte Virginia und nahm einen Schluck Fruchtshake. »Jeder Junge, der mir einen Ausflug nach Fisherman’s Village vorschlüge, würde Punktabzug bekommen.«
»Er behauptete, er wollte erfinderisch sein.« Jacqueline fing an zu lachen, und die anderen stimmten ein.
Ich wurde neugierig. CeeCee hatte doch bei Leos Anblick von Fisherman’s Village gesprochen! Ich setzte mich auf, nahm meine Ohrstöpsel raus und setzte die Sonnenbrille ab.
»Was ist eigentlich Fisherman’s Village?«, fragte ich.
Drei perfekt geschminkte Gesichter drehten sich zu mir, sechs makellos gezupfte Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Miranda! Wir dachten, du würdest schlafen!«, rief CeeCee.
»Jetzt, wo du wach bist – gibt’s eigentlich irgendwas Neues von T. J.?«, fragte Virginia und richtete ihren grün gepunkteten Bikini, um ihren Busen besser zur Geltung zu bringen.
»Ich glaube, Fisherman’s Village liegt in dieser Richtung«, ging Jacqueline als Einzige auf meine Frage ein. Mit ihrem Fruchtshakebecher deutete sie auf die zerklüfteten Felsen, wo ich Leo am Donnerstag das erste Mal hatte langgehen sehen. Wieder einmal war alles, was ich erkennen konnte … Nebel. »Ich bin nie da gewesen, aber ich weiß, dass dort die Einheimischen von Selkie Island
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