Der Junge aus dem Meer - Roman
dass meine immer ach so effektive Mutter ihre Schritte ebenfalls verlangsamt hatte.
Ich blickte zu ihr und mir fiel auf, wie still sie seit der Enthüllung über Mr. Illingworth geworden war. Zwei rosafarbene Flecken waren auf ihren Wangenknochen erschienen – kein Sonnenbrand.
»Also … ich habe eine Frage«, sagte sie nach einer Minute so leise, dass Virginia, ihr Bruder und Felice, die vor uns liefen, nichts hören konnten.
»Ich dachte, ich wäre diejenige mit den Fragen«, scherzte ich und versuchte, die zwischen uns aufgekeimte Feindseligkeit zu entschärfen.
Mom schenkte mir ein flüchtiges Lächeln. »Dieser T. J.«, setzte sie an, was meinen Puls sofort beschleunigte. »Vielleicht ist er ja jemand, den du gern besser kennenlernen möchtest? Dann könntest du außer CeeCee und den Mädels noch andere Freunde auf Selkie haben.«
Und außer Leo
, dachte ich und blickte auf meine Chucks hinunter.
»Hmm, klingt nett«, gelang es mir zu erwidern, und ich begriff, warum ich mit Mom niemals über Jungs gesprochen hatte – es war die mit Abstand unangenehmste Unterhaltung, die man mit einem Elternteil führen konnte.
Als wir am
Crabby Hook
vorbeikamen, sog ich den Duft von gekochtem Mais ein und musste wieder an die Erben-Party denken. Da ich wusste, dass Mom und Mr. Illingworth eine Verbindung hatten, erschien T. J. jetzt in einem anderen Licht: Er kam mir sowohl bekannter als auch fremder vor.
»Nun, ich habe überlegt, ihn und seinen Vater morgen zum Tee einzuladen«, sagte Mom eilig, und es war klar, dass sie diese Idee schon den ganzen Nachmittag erwogen hatte. Die rosafarbenen Flecken auf ihrer Wange wurden dunkler.
»Wirklich?« Mein Bauch verkrampfte sich ein wenig. Wollte Mom die beiden zum Tee einladen, damit ich Zeit mit T. J. verbringen konnte? Oder hatte sie andere Motive? Ich dachte an ihr geheimnisvolles Telefongespräch am Abend zuvor. »Mom«, erwiderte ich zögernd und versuchte ihrem Blick auszuweichen, »ich weiß, dass du und Mr. Illingwortheuch – was auch immer, aber …« Ich verstummte, und mein Gesicht wurde rot. Vielleicht war das
wirklich
das unangenehmste Thema überhaupt, das man mit einem Elternteil erörtern konnte.
Mom nickte, ihr Blick wirkte fern. »Es ist schon eine Weile her, seit Teddy … seit Mr. Illingworth und ich miteinander bekannt waren. Doch jetzt, wo ich wieder auf Selkie bin, habe ich viel darüber nachgedacht, wie wichtig es ist, die Dinge zu bereinigen. Ich schätze, ich habe in meiner Jugend ein paar … Fehler gemacht.« Sie zog einen Schmollmund, als ob sie fürchtete, zu viel gesagt zu haben.
»Welche Fehler?«, fragte ich und suchte in ihrem Gesicht nach einer Antwort. Mom machte keine Fehler. Sie war eine erfahrene Ärztin für Plastische Chirurgie – und verdiente ihr Geld damit, das Aussehen anderer Leute zu perfektionieren. Und außerhalb des OPs war sie ebenso kontrolliert und geordnet. Sie löste das Kreuzworträtsel der sonntäglichen New York Times mit einem Füllfederhalter. Sie war
Mom
.
»Darum geht es jetzt nicht, Miranda«, erwiderte sie forsch und beschleunigte ihre Schritte. »Es geht um …« Sie schien nach den passenden Worten zu suchen. »Ich wollte nur wissen, ob du einverstanden bist, wenn wir Gäste bekommen.«
»Ich denke ja«, entgegnete ich, gleichermaßen aufgeregt und ängstlich. T. J.? Im Alten Seemann? Mit mir? Ich versuchte, es mir vorzustellen: seine großen braunen Augen inspizieren das Chaos aus Kartons, sein gebügeltes Jackett hängt an der ankerförmigen Garderobe.
»In Ordnung«, sagte Mom. Sie klang viel entspannter, als wir jetzt den Platz in der Innenstadt betraten. »Dann rufe ich Mr. Illingworth an und lade sie ein.«
Während Mom beschleunigte, um die anderen einzuholen,konnte ich angesichts dieses merkwürdigen Szenarios nur die Stirn runzeln. Als ich CeeCee gesagt hatte, dass ich mich lieber in einer Vierergruppe mit T. J. treffen wollte – hatte ich mir nicht gerade diese Art von Date vorgestellt.
***
»Dann fragte also der Caddy: ›Sir, ist das Ihr Sohn?‹, und ich konnte bloß sagen: ›Das will ich doch hoffen!‹«
Theodore Illingworth der Erste kicherte über seine eigene Geschichte. Lächelnd zuckte ich neben T. J. zusammen, der ein maßvolles Grinsen aufgesetzt hatte. Mom, die Pfefferminze in den Eisteekrug rührte, murmelte etwas von T. J.s Talent, und ich beneidete sie um ihre soziale Kompetenz.
Montagnachmittag – die Teestunde – war gekommen. Der ältere und der jüngere
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