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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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offenkundigsten Platz nach dem Schlüssel für ihren Koffer zu suchen.
    Den Schlüssel fest in meine Hand gedrückt lief ich aus dem Zimmer und rannte die Treppe hoch, wo ich beinahe mit Mom zusammenstieß.
    Sie trug eine Leinenhose, ein Oberteil mit U-Boot-Kra gen und hielt ihre Einkaufstasche in der Hand. »Ich gehe in die Stadt und kaufe eine Flasche Bourbon für die Coopers«, sagte sie und informierte mich damit im Vorbeigehen über das Essen am Abend. »Komm doch mit, wenn du magst«, fügte sie hinzu und lächelte mich zerknirscht an. Es war klar, dass ihr die Sache mit Greg immer noch leidtat.
    Ich vergrub den Schlüssel in meiner Hand und schaffte es irgendwie zu sagen, dass ich CeeCees Einladung bereits ausgeschlagen hatte. Dann wartete ich, bis Mom die Treppe hinuntergelaufen und aus dem Haus gegangen war, und rannte mit hämmerndem Puls die restlichen Stufen hinauf.
    Ich flitzte in Isadoras Wandschrank und zog an der Schnur, um die Glühbirne über mir einzuschalten. Dann schob ich mich an den noch nicht eingepackten Kleidern vorbei, kniete mich vor den Überseekoffer und steckte den Schlüssel ins Schloss.
    Obwohl ich mir sicher war, dass er passte, hörte ich mich nach Atem ringen, als sich das Schloss öffnete.
    Langsam hob ich den Kofferdeckel an; der Geruch von Mottenkugeln stieg mir zur Begrüßung in die Nase.
    Der Koffer enthielt ein einziges Kleid: Es war cremefarben und trägerlos, und am Hals sowie auf dem langen hauchdünnen Rockteil waren altrosafarbene Blumen appliziert.
    Erstaunt zog ich das Kleid heraus, wobei ich einen Nebel aus Staub fabrizierte. Dieses Abendkleid traf zwar genau sowenig meinen Geschmack wie das schwarze Spitzenkleid, das hinter mir hing, doch zweifellos war es wunderschön. Außerdem war es weitaus extravaganter als alles andere in diesem Wandschrank. Das erklärte allerdings nicht, wieso Isadora es hier verstaut hatte.
    In der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, legte ich das Kleid beiseite und schaute wieder in den Koffer. Lediglich ein Stapel Briefumschläge, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden, hatten unter dem Kleid gelegen. Ich nahm den Stapel heraus und sah, dass ein paar maschinengeschriebene Zeilen auf weißem Papier um den Stapel gewickelt waren, ihn gänzlich einhüllten.
    Die Neugier beschleunigte meine Bewegungen, während ich das Gummiband entfernte und den Brief auseinanderfaltete. Die Datumsangabe auf dem Kopf lag nicht lange zurück, nur ein paar Monate vor Isadoras Tod.
     
    Liebe Mrs. Hawkins,
    gemäß Verfügung des verstorbenen Mr. Henry Blue Williams, Selkie Island, Georgia, füge ich diesem Schreiben die Korrespondenz bei, die Mr. Williams Ihnen testamentarisch zu hinterlassen wünschte.
    Mit freundlichen Grüßen
    Daryl Phelps
     
    Ein Schauder überkam mich, als ich den Brief oben auf das Kleid legte. Irgendjemand – wer immer dieser Henry Blue Williams gewesen sein mochte – hatte Isadora also kurz vor ihrem Tod etwas hinterlassen. Hatte dies etwa Isadoras spätere Großzügigkeit gegenüber Mom ausgelöst? Und worum ging es in dieser Korrespondenz genau?
    Als mein Blick wieder auf die vergilbten Briefumschläge in meiner Hand fiel, schreckte ich auf: Die Adresse auf jedem der Umschläge war von Isadora persönlich in ihrer typisch geschwungenen, eleganten Schrift verfasst worden. Alle waren adressiert an:
     
    Henry B. Williams
    5 McCloud Way
    Selkie Island, Georgia
     
    Die Absenderadresse auf jedem Brief lautete
Der Alte Seemann
. Ausgehend vom Poststempel stellte ich eine kurze Berechnung an: Als diese Briefe verschickt worden waren, war Mom noch nicht geboren, und Isadora musste Ende zwanzig gewesen sein. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich den Namen Henry Blue Williams zuvor schon einmal gehört hatte, doch die mir einzig bekannten Namen waren Daryl Phelps – der Anwalt, mit dem Mom gesprochen hatte – und der Straßenname auf dem Umschlag: McCloud Way. Es war der Name des unbefestigten Wegs, der zu Leos Haus führte. Wieso hatte meine Großmutter jemandem in Fisherman’s Village geschrieben?
    Mit zitternden Fingern drehte ich den ersten Umschlag des Stapels um und hob die Lasche an, um den auf dünnem Durchschlagpapier geschriebenen Brief zu enthüllen.
     
    15. Juni Mein Liebster,
    ich denke immer an dich. Während ich hier sitze und auf der Veranda fast vor Hitze umkomme, veranstaltet Klein-C. eine Teeparty mit ihren Puppen. Klein-J. jagt über den Strand und J. H. wütet hier drinnen
herum und mixt sich einen

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