Der Junge aus dem Meer - Roman
durchfuhr mich.
Oh mein Gott.
Gemäß der Theorie Llewellyn Thorpes war Williams einer der Familiennamen, der mit den Nachkommen von William McCloud assoziiert wurde. Die Williams waren ein von den McClouds getrennter Familienzweig der Meerwesen.
Wenn Llewellyn Thorpes Buch auch nur im Mindesten Tatsachen beschrieb, würde das bedeuten, dass meine Großmutter eine Affäre gehabt hatte, die …
Meine Stirn war schweißnass, als ich mich auf die Füße zog. Nein. Das konnte nicht sein. Dieses Buch beschrieb keine Tatsachen. Isadora musste auf ihre Klassenunterschiede angespielt haben – sie im Elfenbeinturm des Alten Seemanns und Henry Williams in Fisherman’s Village.
Vielleicht hatten auch sie sich am Siren Beach getroffen, dort wo Unterschiede keine Rolle spielten. Vielleicht hatte sie sich auch von der Freiheit angezogen gefühlt, die er, anders als alle anderen in ihrem Leben, ausgestrahlt hatte. Ich biss mir in die Lippe, blickte mich um und fuhr mit der Hand über das schwarze Spitzenkleid. Vielleicht ähnelten meine Großmutter und ich uns ja tatsächlich, ähnelten uns auf eine Weise, die weit über dunkle Locken und glatte Haut hinausging, ähnelten uns auf eine Weise, die ich mir niemals hätte vorstellen können.
Ich dachte daran, wie Delilah vor einigen Tagen von der sich wiederholenden Geschichte gesprochen hatte. Sie hatte darauf angespielt, dass T. J. und ich die Geschichte der Beziehung zwischen Mom und Mr. Illingworth wiederholten. Doch nun kam es mir vor, als folgte ich Isadoras Weg wie einer Anzahl von Stufen, die zum Ozean hinunterführten. Vielleicht erbten die Menschen ja nicht bloß das Aussehen, die Talente und die Anfälligkeit für Krankheiten, sondern auch das Schicksal.
Dann hörte ich, wie die Haustür aufgeschlossen wurde – Mom kam vom Supermarkt zurück. Mit größter Eile stopfte ich das cremefarbene Kleid und die Briefe zurück in den Koffer, verschloss ihn und steckte den Schlüssel in die Tasche meiner Pyjamahose. Ich würde am nächsten Tag zurückkommen, um weiterzulesen. Einem plötzlichen, sicheren Instinkt nachgebend nahm ich das hochgeschlossene schwarze Spitzenkleid vom Bügel, legte es mir über den Arm und brachte es in mein Zimmer, wo es auf den Anbruch der Nacht warten konnte.
Es war ein Wunder, dass ich den restlichen Nachmittag überstand. Ich nahm eine lange heiße Dusche, lief dann über unseren privaten Strandabschnitt und zählte die verstreichenden Minuten. Als der Abend sich langsam über den Himmel breitete, kehrte ich ins Haus zurück, wo sich Mom in einem eleganten Kleid darauf vorbereitete, zum Abendessen aufzubrechen. Sobald sie gegangen war – nicht ohne argwöhnisch in meine Richtung zu blicken und mich anzuhalten, mir das Abendessen aus dem Kühlschrank warm zu machen –, lief ich in mein Zimmer und begann mich umzuziehen.
Mit den routinierten Bewegungen eines Chemikers im Labor schlüpfte ich in meinen schwarzen Badeanzug. Dann hob ich, mit Schmetterlingen im Bauch, Isadoras Kleid von meinem Bett. Es gab einen kleinen Reißverschluss an der Seite, den ich aufmachte, bevor ich es mir über den Kopf zog. Der Stoff war gleichzeitig weich und kratzig. Der Schnitt war so präzise, als wäre das Kleid für mich geschneidert worden. Ein kalter Schauer lief mir über die Arme, doch die Tatsache, dass das Kleid wie angegossen passte, schien mir ein Zeichen dafür zu sein, dass ich das Richtige tat.
Schließlich schlüpfte ich in meine flachen Schuhe undbetrachtete mich selbst im Spiegel über der Kommode. Ich hatte mich entschieden, mein Haar nach der Dusche offen zu tragen, und als ich mich an Jacquelines gestrige Aktion erinnerte, lieh ich mir etwas von Moms Lidschatten aus dem Badezimmerschrank und trug ihn auf.
Ich war auf die Ähnlichkeit mit Isadora durchaus vorbereitet, doch was mir nun aus dem Spiegel entgegenblickte, war mehr als das. Heute Abend war ich meine Großmutter. Es lag ganz sicher auch an diesem Kleid im Retrostil, doch da war auch noch etwas anderes – ein Strahlen in meinem Gesicht, eine Schüchternheit in meinem Blick. War es Leo, waren es meine Gefühle für ihn, die diese Verwandlung bewirkt hatten?
Oder war ich es selbst?
Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich meine Großmutter sein wollte. Doch kam es mir vor, als hätte ich in dieser Hinsicht keine Wahl. Die alte Miranda, vernünftig und verantwortungsvoll, hätte sich niemals aus dem Haus geschlichen, wenn sich ihre Mutter ohnehin schon über sie aufgeregt
Weitere Kostenlose Bücher