Der Junge aus dem Meer - Roman
weiteren Gin-Tonic. Alles ganz normal, doch wenn ich auf den tiefen Ozean hinausblicke, kommst du mir in den Sinn, und ich einnere mich wieder, wie außergewöhnlich – wie magisch – das Leben sein kann. Hab Dank dafür, dass du mir diese sehr wichtige Lehre erteilt hast.
Immer die deine,
IBH
Ich legte den Brief beiseite und spürte mein Herz in der Brust hämmern. Ich konnte nicht glauben, dass Menschen eine so blumige und romantische Sprache im wirklichen Leben benutzt hatten. Ebenso wenig konnte ich glauben, dass meine eigene Großmutter diese Zeilen geschrieben hatte – an irgendeinen Mann. Nicht an meinen Großvater, er dürfte der J. H. in ihrem Brief gewesen sein. Und Klein-C. und Klein-J. mussten dann wohl Tante Carol und Onkel Jim bedeuten.
Dann …
Hatte Isadora eine Affäre gehabt?!
Es kam mir vor, als sei ich eben ganz tief in die Geschichte hineingestolpert, in einen Teil des Lebens meiner Großmutter, dessen Entdeckung nicht für mich bestimmt war.
Eine Affäre. Der Gedanke an Betrug löste ein Brennen tief in meinem Hals aus, verursachte mir Übelkeit. Ich dachte an Linda und Greg und stellte mir dann meine Großmutter in ihrer Jugend vor, hübsch und kokett. War sie wirklich der Typ gewesen, der meinen Großvater betrog, den Vater ihrer Kinder? Nannte meine Mutter sie deswegen ein Monster?
Ich blickte auf die Schnörkel und Kurven in der Handschriftmeiner Großmutter – so gänzlich anders als meine eigene ordentliche und solide Schreibweise. In den letzten Tagen hatte ich eine zunehmende Verbindung zu Isadora empfunden, die vielleicht an unserer körperlichen Ähnlichkeit lag. Doch nun konnte ich spüren, dass meine wie auch immer geartete eigenartige Loyalität zu verebben begann.
Nichtsdestotrotz wollte ich mehr wissen und öffnete einen weiteren Umschlag, der nur ein paar Tage später abgestempelt war.
Mein geliebter H., ich hasse es, dass wir durch unsere gewaltigen und komplizierten Gegensätze, durch deine Situation, voneinander getrennt sind. Ich möchte am liebsten die Wände meines Hauses einreißen und mich bedenkenlos in den Ozean stürzen. Am liebsten würde ich unser Geheimnis nicht länger verbergen. Wenn wir doch immer auf Siren Beach bleiben könnten, weit entfernt von den neugierigen Blicken der Gesellschaft! Heute Abend werde ich es mir in meinem Arbeitszimmer gemütlich machen, die Gedichte von T. S. Eliot lesen und von dir träumen.
Immer die deine,
IBH
Ich legte den Brief beiseite. Es gab noch viel mehr Umschläge, doch zunächst musste ich nachdenken, meine verstreuten Gedanken ordnen. Ich setzte mich auf den staubigen Fußboden und lehnte mich gegen die schwankende Wand aus Kleidern hinter mir.
Ich fragte mich, ob ich das eben Gelesene für bare Münze nehmen konnte. Vielleicht waren diese Briefe, so wie Llewellyn Thorpes Buch, metaphorisch und gar nicht wörtlichgemeint. Obwohl es keinen Zweifel daran gab, dass Isadora diesen Mann, diesen Henry Williams, als ihren ›Geliebten‹ bezeichnet hatte. Es war nicht zu verleugnen, dass sie vorgehabt hatte, von ihm zu träumen. Ich hatte zwar nur Dreien in den geisteswissenschaftlichen Fächern, wusste aber, dass in diesen Sätzen nicht all zuviel Raum für Metaphern übrig war.
Doch es gab andere Dinge in diesen Briefen, vage Anspielungen, die nicht so leicht zu entziffern waren. Ich hasse es, hatte Isadora geschrieben, dass wir durch unsere gewaltigen und komplizierten Gegensätze voneinander getrennt sind. Ihre Worte erinnerten mich daran, was Leo zuvor auf der Veranda über uns gesagt hatte. Und was hatte Isadora mit Henry Williams’ ›Situation‹ gemeint? Stimmte irgendetwas nicht mit ihm? Beinahe gedankenlos blickte ich auf meine nackten Füße. Zusammengewachsene Zehen oder Finger waren interessant, dachte ich. Es gab irgendetwas Aquatisches an ihrer Erscheinung, so als wären sie Reliquien uralter menschlicher Existenz im Wasser.
Oder waren sie vielleicht genau das, was Meerjungfrauen und Meermänner ausmachte?
Mein Herz überschlug sich fast. Erst vor Kurzem hatte ich etwas in Llewellyn Thorpes Buch gelesen, den Keim eines winzigen Details, das sich nun abmühte, in mein Bewusstsein zu dringen. Ich wusste genau, dass es mit Isadoras Brief zusammenhing, doch ich konnte mich nicht daran erinnern.
Ich blickte wieder auf die beiden Umschläge, die ich zur Seite gelegt hatte. Die beiden gleichlautenden Adressen starrten mich an. Henry B. Williams. Henry B. Williams.
Williams.
Ein Schock
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