Der Junge aus dem Meer - Roman
fragen«, sagte er mit nachdenklicher Miene. »Warum versteckst du immer deine Zehen?«
»Versuchst du, mich abzulenken?«, fragte ich nervös.
»Ich meine es ernst«, sagte Leo lachend. »Du hast perfekt geformte hübsche Füße.«
»Nein, hab ich nicht«, erwiderte ich. Jahrelang aufgestaute Gefühle von Peinlichkeit erhoben sich in meinem Innern zu einem donnernden Crescendo. »Sie sind … merkwürdig. Meine Zehen waren von Geburt an zusammengewachsen. Sieh mal, du kannst noch immer die Operationsnarben erkennen.« Ich zeigte auf meine Füße und war leicht erstaunt, dass ich meinen größten Makel so offen präsentierte.
»Miranda«, sagte Leo geduldig, »man sieht doch gar nicht viel. Aber wenn man genau hinschaut, sieht es, tja … interessant aus.«
»Du meinst wohl merkwürdig«, assistierte ich.
Leo grinste mich an und ließ meinen Knöchel los. »Was ist so falsch an merkwürdig? Ich bin auch merkwürdig. Wir können zusammen merkwürdig sein.«
Wie das denn?
, fragte ich mich, sprach es aber nicht aus. Ich beugte mich einfach vor, um seinen Kopf zu küssen, und marschierte dann in Richtung Wasser. Der kühle Sand quetschte sich zwischen meine Zehen, das warme Meer saugte an meinen Füßen. »Fühlt sich toll an!«, rief ich Leo über meine Schulter zu und hoffte, ihn anlocken zu können.
Doch er winkte mir bloß zu und lachte. »Ich weiß.«
Ich streckte ihm die Zunge raus, drehte mich dann um und lief weiter in Wasser hinein. Das Meer stieg mir bis zur Wade, zu den Knien, zu den Hüften. Ich warf den Kopf zurück, spürte, wie meine Haare meine Taille kitzelten und die frische Luft meine Wangen küsste. Da Leo nicht weit von mir entfernt stand, fühlte ich mich sicher. Unbesiegbar.
Dann tauchte ich unter.
Ich blies die Wangen auf und beobachtete erstaunt, wie sich mein dunkles Haar ringförmig vor mir auffächerte. Ich stieß mich vom sandigen Untergrund ab, streckte mich lang aus und begann, durch diese graublaue Welt zu schwimmen, die ich inzwischen so sehr zu lieben gelernt hatte. Für einen Augenblick vergaß ich mein geplantes Experiment mit Leo und genoss es einfach, unter Wasser zu sein.
Als meine Lungen nicht mehr konnten und meine Augen zu brennen anfingen, kam ich wieder an die Oberfläche. Die Luft war ein Schock. Mein Haar klebte an meinem Kopf und mein Mund war voller Salzgeschmack. Ich wirbelte herum und winkte Leo zu, der jetzt ganz winzig auf dem Strand aussah. Er winkte zurück. Ich spürte, wie sich meine Füße von selbst nach oben bewegten, als ich mich weiter hinauswagte.
»Komm!«, rief ich. Meine Stimme hallte über die Brandung.
Leo hielt sich eine Hand ans Ohr und tat so, als würde er nichts verstehen. Ich lachte, tauchte wieder unter und ließ mich von der Strömung treiben. Ich schwamm mit trägen Bewegungen und machte langsame Züge. Die Wellen, obwohl groß, schwappten sanftmütig gegen mich und wiegten mich hin und her wie eine Mutter ihr Kind.
Dann wurde die Umarmung des Ozeans plötzlich fester und enger. Eine Kraft, viel stärker als ich, wie reineSchwerkraft, begann an meinen Füßen zu saugen und zog mich in die Tiefe. Eine Sekunde lang setzte mein Herz aus. Ich sah, dass das Wasser um mich herum kleine Wellen gebildet hatte, die ein dunkleres Blau als der übrige Ozean ausstrahlten.
Eine Unterströmung
, dachte ich und erinnerte mich daran, was T. J. auf dem Boot erzählt hatte. Doch was hatte er exakt über Unterströmungen gesagt? Gab es da nicht eine bestimmte Methode, um ihnen zu entkommen?
Ich konnte mich nicht erinnern.
Aber es war egal. Ich war eine erfahrene Schwimmerin. Ich würde es schon an den Strand zurückschaffen. Ich begann, kräftige Schwimmzüge zu machen, und wehrte mich gegen die starke Strömung. Doch je heftiger ich mich bewegte, desto stärker schien mich die Strömung zurückzuwerfen. Ich bekam es mit der Angst zu tun und öffnete den Mund, um Leo zu rufen. Doch der Wind trug meine Worte fort. Wasser schwappte mir in den Mund, und mir wurde klar, wie tief ich hinuntergezogen wurde. Ich versuchte Leo zuzuwinken, doch meine Arme fühlten sich bleischwer an und ich musste mich abmühen, das Wasser mit den Händen zu verdrängen.
Bleib ruhig
, sagte ich zu mir selbst, während ich gegen die Strömung ankämpfte.
Du bist schlauer als die Natur. Du wirst es schaffen.
Irgendetwas Schleimiges wickelte sich um eins meiner Beine. Ich versuchte es abzuschütteln, doch sein ebenso schleimiger Zwilling schlang sich um mein anderes Bein.
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