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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie meine Füße gefesselt wurden, so fest, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. In meiner wachsenden Panik dachte ich an Seeschlangen und Kraken, an die Untiere, die unter der Wasseroberflächelauerten. Ich hatte einen Fehler begangen, diese Geschichten als Unsinn abzutun.
    Ich versuchte zu schreien, tauchte aber immer weiter und weiter unter. Kurz bevor ich gänzlich von den Wellen verschlungen wurde, sah ich Leo auf die Brandung zulaufen, doch ganz sicher war ich mir nicht.
    Das Wasser saugte mich ein. Ich schlug wie wild mit den Armen und kam mir vor wie der Fisch, den ich gestern im Hafen gesehen hatte. Der Fisch, der fast gestorben wäre.
    Nein. Stopp.
    Doch ich konnte meine Gedanken – oder meinen Körper – nicht länger kontrollieren. Das Unausweichliche zeichnete sich drohend ab, und ich spürte, wie ich langsam schwach wurde. Ich würde ertrinken. So würde es also enden. Ich würde als Jungfrau sterben. Ich würde sterben, ohne Leo meine Liebe gestanden zu haben. Ohne meiner Mutter gesagt zu haben, was ich über Isadora erfahren hatte. Ohne je wieder mit Linda zu sprechen.
    Meine Lungen schienen in Flammen zu stehen. Ich konnte nicht länger kämpfen, konnte nichts mehr tun, um oben zu bleiben. Ich brach zusammen, ließ mich rückwärts in eine schwarze Decke fallen, die mich komplett einhüllte.
    Doch dann, plötzlich, war diese Decke genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Ich fühlte mich nicht länger schwach oder müde, und meine Lungen brannten nicht mehr.
    Ich spürte, dass mich irgendjemand festhielt, mich unter Wasser trug, und ich fühlte mich sicher. Ich blickte auf und sah, dass es Leo war. Sein goldenes Haar schwebte im Wasser, seine Augen waren so grün wie das hohe Seegras, das uns umgab. Leo. Natürlich! Er war gekommen, um mich zu retten. Er würde mich nicht ertrinken lassen.
    »Miranda«, sagte Leo und sah mich zärtlich an. »Alles ist in Ordnung. Ich bin hier.«
    Wie seltsam, dass er unter Wasser sprechen kann
, dachte ich und nickte ihm verträumt zu,
und dass ich in der Lage bin, ihn zu hören.
Und doch schien alles ganz natürlich.
    Als Leo anfing mich zu küssen, fühlte sich auch das ganz normal an. Wir küssten und küssten uns; unsere Küsse waren so fließend wie das Wasser. Ich sah hinunter, war erstaunt, mit welcher Geschwindigkeit wir schwammen. Und dann sah ich – wirklich? – ein kurzes Aufflackern von Rot und Gold.
    War es so auch bei Isadora und Henry?
, fragte ich mich. Hatte auch sie ihn das erste Mal so gesehen?
    »Ich weiß«, flüsterte ich in Leos Ohr, während wir an Schwärmen glänzend bunter Fische vorbeischwammen. »Ich weiß jetzt, wer du bist.«
    »Shhh«, sagte er und wiegte mich in einer sanften Umarmung.
    »Ich will nicht weggehen«, murmelte ich, und wieder küsste mich Leo. Dann wich er zurück und sah mich aus großer Entfernung an, bevor er mich noch einmal küsste. Ich wollte seinen Kuss erwidern, konnte aber meine Lippen nicht richtig bewegen.
    Dann überkam mich wieder die Dunkelheit, und ich schloss die Augen.
    ***
    »Miranda? Miranda, kannst du mich hören?«
    Leos Stimme klang weit entfernt.
    »Miranda, ich weiß, dass du mich hören kannst. Miranda?«
    Wieso war sein Tonfall so flehend, so außer sich? Ich wollte ihm sagen, dass er sich keine Gedanken machen musste, dass ich sein Geheimnis nicht verraten würde.
    Wenn ich bloß hätte sprechen können. Oder meine Augen öffnen.
    Um uns herum war es still. Ich hörte nur das Meeresrauschen und Leos ruhiges Ein- und Ausatmen.
    Ich spürte den Sand zwischen meinen Zehen, und mein Körper war total durchnässt. Hatte Leo mich zu irgendeinem Versteck unter Wasser gebracht?
    Ich öffnete den Mund. Wieso waren meine Lippen so rissig? Ich wollte fragen, wo wir uns befanden, musste aber stattdessen husten; ein so heftiger Husten, dass sich mein ganzer Körper schüttelte.
Ich hab mich erkältet
, dachte ich.
Weil ich so lange geschwommen bin
. Ich hustete wieder und fühlte mich dann irgendwie wacher.
    »Miranda?«
    Ich schaffte es, die Augen zu öffnen, und erkannte Leo, der tropfnass und mit nackter Brust über mir hockte. Lag ich etwa auf der Erde?
    »Gott sei Dank«, murmelte er und blickte mich an, als ob er nichts anderes mehr ansehen könnte. »Alles ist okay. Alles ist okay.« Er wiederholte es wie ein Mantra.
    Ich kniff die Augen zusammen, sah auf die dunklen Felsen über Leos Kopf und erkannte, dass wir uns in der Grotte befanden.

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