Der Junge aus dem Meer
stürzte sich auch schon Paul Nachtigall über den fremden Jungen, als hätte er ihn gerade beim Ringkampf auf die Matte geworfen. Er kniete sich über ihn, die Schenkel links und rechts neben dem Körper, packte die Arme, kreuzte sie vor der Brust und drückte sie ihm mit aller Kraft in die Magengrube. Anschließend riß er sie weit auseinander, kreuzte sie noch einmal und preßte sie dann wieder auf den Magen zurück. „Ich bleibe hier und mache weiter“, keuchte Paul Nachtigall. „Manuel und Fritz Treutlein flitzen zur Straße und versuchen das nächstbeste Auto anzuhalten.“ Dabei stemmte er sich gerade wieder mit seinem ganzen Gewicht auf den Magen des fremden Jungen. „Karlchen Kubatz galoppiert zusammen mit Hans Pigge ins Dorf. Falls die andern kein Glück haben — dann soll der Redakteur mit seinem roten Flitzer hier an tanzen.“
„Ist geritzt“, rief Karlchen Kubatz und schwirrte ab. Hans Pigge lief hinter ihm her. Fritz Treutlein und Manuel verschwanden inzwischen schon in den Dünen.
„Emil und Otto“, schlug Paul Nachtigall jetzt vor. „Ihr macht euch in Richtung Vogelwarte auf die Socken. Da gibt’s ein Telefon. Vielleicht erreicht ihr damit noch vor den anderen einen Arzt oder einen Unfallwagen.“
„Arzt oder Unfallwagen“, wiederholte Emil Langhans. Und schon türmte er zusammen mit dem dicklichen Sputnik durch den Sand und vorerst zur Boje n hinüber.
Eine knappe Minute später gurgelte der fremde Junge den ersten Schluck Meerwasser aus dem Mund.
„Ja, nur immer raus damit“, keuchte Paul Nachtigall. „Zuviel Nordsee im Magen wirft die stärksten Männer um.“
Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Armmuskeln fingen an zu stechen. Aber er pumpte erbarmungslos weiter.
Dabei bemerkte er gar nicht, daß der Junge, den die Flut am Strand zurückgelassen hatte, zum erstenmal die Augen aufschlug. Allerdings nur so lange, wie eine Möwe braucht, um vorbeizufliegen.
Eine Großmutter ist scharf auf blaue Wunder
So, und jetzt machen wir einmal zwischendurch genau das, was Leichtathleten machen, wenn sie im Stadion möglichst weit oder möglichst hoch springen wollen.
Auch wir nehmen einen Anlauf, drücken uns ab und wirbeln durch die Luft.
Mit dem Unterschied allerdings, daß wir nach rückwärts springen und daß es uns nicht um ein paar Zentimeter mehr oder weniger geht. Wir springen nämlich nach der Zeit. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir sind nach unserem Absprung genau zehn Tage durch die Luft gesegelt, und dabei passierte es dann auch noch, daß wir ausgerechnet in Bad Rittershude landen. Direkt vor dem Rathaus und schräg gegenüber vor dem „Hotel zum Kurfürsten“.
Zufälle gibt’s, die gibt’s eigentlich gar nicht...
Über der Stadt lag jetzt schon seit Tagen eine Hitze, die sich gewaschen hatte, vor zehn Tagen, wie gesagt.
„Es ist zum Auf-die-Bäume-Klettern“, klagte Fleischermeister Karfunkel. Seine Schaufenster waren leer wie nach einem Ladeneinbruch. Aber er wagte seine Würste und Koteletts nur aus den Kühlschränken zu holen, wenn ein Kunde nach ihnen verlangte. „Auf meinen Eisbeinen bleibe ich sowieso sitzen, als hätten sie die Masern. Wer haut sich schon bei diesem Wetter eine Schweinshaxe hinter die Krawatte!“
Aber auch die übrigen Geschäfte mußten sich mit dieser verflixten Hitze herumschlagen. Sie hatten alle ihre Jalousien heruntergelassen und versteckten sich hinter ihnen wie Schildkröten unter ihren Panzern.
In den Konditoreien schmolzen die Schwarzwälder Torten und die Mohrenköpfe weg wie Butter in der Bratpfanne. Und wenn im Warenhaus am Richard-Wagner-Platz in einem der elf Schaufenster die Sonne nur für eine halbe Stunde eine ungeschützte Stelle entdeckte, verfärbte sie die ausgestellten Kleider und Anzüge gleich so, daß man sie eigentlich nur noch zum Fasching tragen konnte.
Auch im Friseurgeschäft Treutlein wirkte sich die Hitze aus. Fritz, der bei seinem Vater in die Lehre ging, hatte nun schon zum zweitenmal sämtliche Spiegel, Waschbecken und Wasserhähne poliert, die Sitzkissen in den Sesseln ausgeklopft sowie die Rasiermesser und Scheren nachgeschliffen. Gleichzeitig hatte seine Schwester Corny nebenan ihre Damenabteilung auf Hochglanz gebracht.
Mehr war im Augenblick beim besten Willen nicht zu tun. Deshalb hatten sich die Treutleins jetzt drei Stühle vor ihren Laden aufs Trottoir gestellt, saßen dort nebeneinander und blinzelten in die Sonne, als seien sie irgendwo am Bodensee in der
Weitere Kostenlose Bücher