Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
hatte.
Sie warf sich die Tüte über die Schulter wie der Weihnachtsmann seinen Sack. »Sollen wir eine Pause einlegen?«
»Ich dachte, du fragst nie.«
Ich sammelte unsere Werkzeuge ein und heftete auf dem Rückweg den Blick fest auf den gejäteten Boden unter unseren Füßen, doch alles, was ich fand, war eine alte Plastikflasche und ein Klumpen sich auflösender Zeitung.
Nichts, was irgendeine erkennbare Verbindung zu einem Kind hatte – kein Spielzeug, kein kleiner Pullover mit Namensschild, keine laminierte Karte mit Passbild undder Aufschrift: ICH HEISSE _____, UND SKWARECKI SOLL _____ VERHAFTEN.
Wir hatten nichts gefunden, was auch nur entfernt einen Hinweis darstellen konnte: nur zerbeulte Dosen und schmierige Flaschen, das rostige Blatt einer Pflanzkelle, ein Knäuel verhedderte Drachenschnur, die unerklärlicherweise mit Lametta gespickt war – nichts davon führte irgendwohin.
Ich legte meine jüngsten Funde am Ende der traurigen Abfallreihe ab und schüttelte seufzend den Kopf.
Vielleicht hatten die Quäker mehr Glück gehabt. Oder vielleicht war einfach nichts da, das wir hätten finden können.
Ich wischte mir die Hände am Hosenboden ab und trottete zur Kapelle, aber selbst die Aussicht auf kaltes Wasser konnte mich nur mäßig aufheitern.
Als ich die Kapelle betrat, fand ich Cate im Gespräch mit Detective Skwarecki.
Cate sah zu Boden und nickte, einen Wasserbecher in der Hand, während Skwarecki mit einer halb vollen Keksschachtel gestikulierte.
Ich nahm mir einen Becher Wasser, bevor ich mich dazustellte.
Cate sah mich an. »Es gibt vielleicht gute Neuigkeiten.«
»Haben die Quäker was gefunden?«
»Wir haben eine Vermisstenanzeige, die passen könnte«, erklärte Skwarecki. »Letzten April hier in Queens von der Mutter eines dreijährigen Jungen aufgegeben.«
»Das Alter würde stimmen.«
»Der Gerichtsmediziner geht davon aus, dass es sich um ein afroamerikanisches Kind handelt«, erklärte Cate. »Was auch passt.«
Ich sah Skwarecki an. »Man kann am Skelett die ethnische Zugehörigkeit ablesen?«
»Grob gesagt, ja«, antwortete sie. »Schon bei Kindern sind europäische, afrikanische und asiatische Züge unterscheidbar.«
»Woran zum Beispiel?«, fragte ich.
»Die Form der Nasenlöcher, die Proportionen des Nasenbeins, ob das Jochbein rund oder eckig ist. Selbst der Winkel des Kinns scheint Aussagekraft zu haben. Unser Mann ist sich ziemlich sicher, dass das Kind afrikanische Ahnen hat.«
»Lässt sich irgendwie nachweisen, ob die Frau von der Vermisstenanzeige die Mutter ist?«, fragte ich. »Kann man irgendwelche Tests machen oder so was?«
Skwarecki schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn nur das Skelett übrig ist. Mit einer Blutprobe hätte sich zumindest die Wahrscheinlichkeit ermitteln lassen, ob zwei Individuen eng verwandt sind oder nicht.«
»Klar«, sagte ich, »über die Blutgruppe.«
»Serologie oder HLA-Tests«, sagte sie. »Aber in diesem Fall …«
»Was ist mit DNA?«, fragte ich. Ich hatte in der Times davon gelesen, doch es war noch eine ziemlich neue Technik.
Skwarecki schüttelte den Kopf. »Für eine DNA-Analyse bräuchte man eine ziemlich große Blut-, Speichel- oder Spermaprobe, und zwar von beiden betroffenen Personen. Außerdem wird noch diskutiert, ob die Ergebnisse vor Gericht überhaupt Bestand haben.«
»Ich dachte, es wäre eine wasserdichte Sache«, sagte ich.
Sie zuckte die Schultern. »Letztes Jahr mussten sie beinahe einen Mörder gehen lassen, einen Typen namens Castro, der eine schwangere Frau und ihre Tochter auf dem Gewissen hatte. Die Anklage war überzeugt, dass sie ihn durch eine DNA-Analyse eindeutig identifiziert hatte – Blut des Opfers an seiner Uhr –, aber sein Anwalt hat den Richter überzeugt, es habe sich um einen Laborfehlergehandelt und es gebe keine Übereinstimmung. Seitdem machen sich alle wegen der Prozessrichtlinien und der Beweisfolge in die Hose.«
Entmutigt kippte ich den Rest des Wassers hinunter.
Cate fragte: »Aber wie schaffen Sie es überhaupt, in einem Fall wie diesem eine Identifizierung vorzunehmen? Sie sagten, höchstwahrscheinlich gibt es keine Zahnarztunterlagen.«
»Es ist sehr schwer«, sagte Skwarecki. »Bis zur Pubertät ist am Skelett nicht mal das Geschlecht zu erkennen.«
Ich starrte in meinen leeren Becher, als könnte ich auf dem Becherboden einen nützlichen Hinweis finden.
Leider nein .
Dann sah ich Skwarecki in die Augen. »Gab es für den vermissten Jungen
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