Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Traditionsschuppen in Midtown.
»Nur uns beide?«, fragte ich.
Pagan zeigte auf Sue und Dean. »Die beiden auch, wenn sie freikriegen.«
»Ich bin in Houston«, sagte Dean. »Leider.«
Sue sah ihn an. »Du kneifst?«
»Es bricht mir das Herz«, sagte Dean ungerührt.
Am Samstagmorgen holten Dean und ich den Porsche aus der Schlachthausgarage und machten uns auf den Weg in die verdammten Hamptons. Obwohl er den Sitz ganz zurückgeschoben hatte, waren seine Knie auf Ohrhöhe.
»Wie schlimm ist es da draußen?«, fragte Dean. »Bis jetzt beschränkt sich meine Inselerfahrung auf Binghampton.«
»Es ist grauenhaft«, erklärte ich, als wir in den Midtown Tunnel abtauchten. »Willst du eine Percodan?«
»Vielleicht nach dem Mittagessen.«
Auf dem Long Island Expressway herrschte bis Commack in der Mitte der Insel dichter Verkehr.
»Ah, Ausfahrt zweiundfünfzig«, sagte Dean. »Erinnerungen werden wach …«
Nach unserem Hochzeitsempfang vor zwei Jahren hatten wir vor dem Abflug in die Schweiz, wo wir die Flitterwochen verbrachten, vierundzwanzig Stunden totzuschlagen. Also hatten wir uns in White Castle ein paar Hamburger geholt und die Hochzeitsnacht auf einem eiskalten Wasserbett im Commack Motor Inn verbracht.
»Ich bin immer noch nicht drüber weg, dass wir die herzförmige Badewanne nicht gekriegt haben.« Ich nahm die Hand von der Kupplung und tätschelte ihm das Knie.
»Wenn das Wochenende richtig schlimm wird, können wir immer noch zurückkommen und unseren zweiten Hochzeitstag nachfeiern.«
»Weißt du was?«, sagte ich, »wir schwänzen einfach. Ich wette, es würde ihnen nicht mal auffallen.«
»Geht nicht«, sagte Dean. »Christoph und ich müssen ein paar technische Dinge durchgehen, bevor wir morgen nach Houston fliegen.«
Ich seufzte. Dean war auf einem Bauernhof in Upstate New York aufgewachsen. Niemand durfte es wagen, sich zwischen einen Methodisten und seine Arbeitsethik zu stellen.
Ich hatte drei Jahre gebraucht, ihn zu überreden, seine Heimatstadt zu verlassen. Die Tatsache, dass er mich dazu drängte, ein Wochenende im Nimmerland meiner eigenen Herkunft zu verbringen, war ein bisschen irritierend.
»Wir sollten mal wieder deine Eltern besuchen«, sagte ich. »Sie haben dich seit Monaten nicht gesehen.«
Dean lachte. »Guter Gott, Bunny, da gibt’s nicht mal ein China-Restaurant.«
»Du linke Bazille«, zischte ich, als sich der Verkehr vor uns endlich auflöste.
Dean lachte noch lauter.
Ich schaltete in den fünften Gang und gab Gas.
Ich hatte Dean nicht von Teddy und Mrs Underhill erzählt, aber er hatte auch nicht danach gefragt.
Wir kämpften mit Christophs Wegbeschreibung und mussten mehrmals umdrehen, bis wir endlich auf eine von Hecken gesäumte Schotterstraße stießen, deren Name entfernt an das Wort erinnerte, das sie uns genannt hatten.
Ich fuhr ganz langsam, um den tiefsten Schlaglöchern auszuweichen, ohne den Porsche am Gestrüpp rechts und links zu zerkratzen.
Das Haus stand am Ende einer baumlosen Wiese, ein geschmackloser, karger, mit Zedernschindeln verkleideter Klotz aus den Siebzigern.
Kaum hatte ich den Motor abgestellt, tauchte Christoph an der Haustür auf. Er wirkte ehrlich froh, uns zu sehen.
Dean schälte sich vom Beifahrersitz. Ich griff nach unseren Taschen auf dem Rücksitz und stellte sie in die Auffahrt, um die Flasche Wein herauszuholen, die wir mitgebracht hatten.
Christoph kam uns entgegen, und ich dankte ihm mit der Flasche in der Hand für die herzliche Einladung et cetera, et cetera, Küsschen, Küsschen, pp.
Meine Weinkenntnisse beschränkten sich darauf, dass man nie falschlag, wenn man im Weinladen vor dem Verkäufer mit der asymmetrischsten Frisur und dem stärksten Off-Broadway-Vibe das Sparschwein ausleerte und ihn demütig anflehte, meinen ignoranten amerikanischen Rolling-Rock-Hintern vor drohendem kontinentalem Spott zu retten.
Christoph warf einen kurzen Blick auf das Etikett und lächelte breit. »Wie aufmerksam von dir, liebe Maddie. Trinken wir ein Glas, sobald ihr es euch gemütlich gemacht habt? Was meint ihr?«
Er griff nach unseren Taschen und setzte sich über Deans Protest hinweg. »Sei nicht albern – das Vergnügen musst du mir als Gastgeber überlassen.«
Dann klopfte er Dean auf die Schulter, um ihn willkommen zu heißen, und führte uns ins Haus.
»Ich zeige euch euer Zimmer«, sagte er. »Danach sollte ich wahrscheinlich Astrid und Camilla wecken.«
Die große Uhr in der Eingangshalle zeigte fünf
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