Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
versuchte, die Papiertüte von unten zu halten, und stieg ohne etwas zu sehen über die Milchkiste. Die Tüte hatte einen Riss, der größer wurde.
Obenauf saß ein Kopf Eisbergsalat, den ich mit dem Kinn zu halten versuchte, doch er entwischte mir und rollte über den schmutzigen Boden zur Fahrstuhltür.
Ich watschelte hinterher und gab dem Salatkopf einenkräftigen Tritt, um ihn hinter die Kinderwagen unter der Treppe zu befördern, damit wir ihn nicht essen mussten.
Für manche galt bei Lebensmitteln, die auf dem Boden landeten, die Fünf-Sekunden-Regel, doch meine Mutter war flexibler, ihre Richtlinie war ein Monat.
Doch der fehlgeleitete Eisberg prallte an der Treppe ab und rollte zurück in die Mitte des Flurs, als wollte er sich über mich lustig machen.
Hinter mir hörte ich die Absätze meiner Mutter auf den Fliesen.
Sie schleppte ein Trio von Kühltaschen, bückte sich ungerührt mit einem eleganten Knicks und hatte den angeschlagenen Salatkopf im Nu wieder aufgeladen.
»Kannst du für mich auf den Fahrstuhlknopf drücken?«, fragte ich.
»Natürlich«, flötete sie.
Während ich darauf wartete, dass die Tür aufging, sprang meine Mutter wie eine Gazelle die Treppe hinauf.
Im Fahrstuhl drückte ich den Gips gegen die Tasten, ohne zu wissen, ob ich die Eins erwischt hatte, bis die Kabine zischend auf unserer Etage hielt.
Doch kaum hatte sich die Tür geöffnet und ich war auf den Flur getreten, krachte die Tüte.
Die Zitronensaftflasche zersprang zu meinen Füßen in giftgrüne Scherben, dann folgte eine Lawine von Pastaschachteln, von denen eine die Treppe runter zurück ins Erdgeschoss kullerte.
»Euer Besen ist ein Dreckding«, sagte Mom. »Schmeiß ihn weg.«
Sie ging in die Hocke und begann Scherben und Zitronensaft mit der Hand auf die Kehrschaufel zu schieben.
»Hör auf«, rief ich. »Herrgott noch mal.«
Sie ignorierte mich.
Ich trat vor ihr in die Pfütze. »Weißt du noch, als du dieHand ins Wasser der Spüle gesteckt hast, um das kaputte Weinglas rauszufischen?«
Mom sah auf. »Das ist Jahre her, Madeline.«
»1967«, sagte ich, »in Jericho.«
»Warum erinnerst du dich an so was?«, fragte sie.
»Die Küchentapete war grau mit orangen Windmühlen. Du hast alles vollgeblutet und musstest mit fünf Stichen genäht werden.«
»Vier«, sagte sie.
»Nimm die Schaufel. Ich bin nicht in der Lage, dir eine Aderpresse anzulegen.«
»Ich weiß nicht, wie ich jetzt kochen soll«, sagte Mom.
Wir standen in der Küche und hatten alles weggeräumt, bis auf die Zutaten für das Essen, das sie geplant hatte.
»Was hattest du vor?«, fragte ich.
»Engelshaarpasta mit geräucherten Miesmuscheln, Petersilie, Sojasoße und Zitronensaft, aber der Zitronensaft ist futsch.«
Trotz meiner tiefen Abneigung gegen zweischalige Weichtiere aus länglichen Dosen widerstand ich der Versuchung, meiner Mutter vorzuschlagen, dass wir Pizza bestellen sollten.
»Zufälligerweise haben wir ein paar dieser komischen neuartigen gelben Dinger«, sagte ich und zeigte mit dem Gips auf die Obstschale neben dem Abtropfgestell. »Soviel ich weiß, nennen sie sich Zitronen.«
»Wunderbar«, sagte Mom.
Sie zog ein Einwegglas mit einer strohgelben Flüssigkeit aus der Handtasche und schraubte den Deckel ab. »Möchtest du ein Glas vino ?«
»Danke, Mom, ich nehme noch Antibiotika.«
»Jeder hat seinen eigenen Geschmack«, sagte sie und warf ein paar Eiswürfel in ein Glas, bevor sie sich einschenkte.
Dann hob sie das Glas in meine Richtung. »Auf die Revolution, wo immer sie stattfindet.«
»Klar«, sagte ich. »Warum nicht.«
»Oh! Das hätte ich fast vergessen!« Sie stellte das Glas auf die Theke.
Dann griff sie wieder in die Handtasche, zog ein Paar flache Holzgeräte hervor und drückte sie mir in die Hand.
Die Dinger waren rechteckig mit spitz zulaufenden Griffen, aus rohem Holz, das auf einer Seite geriffelt war, und sie waren mit einer fröhlichen Schleife zusammengebunden.
Sie sahen aus wie schlecht designtes Salatbesteck oder wie etwas, womit die Azteken Pingpong spielten.
»Oh, wow«, sagte ich. »Danke.«
»Das sind Butterspatel«, erklärte sie.
»Zum Bestrafen der Butter, wenn sie nicht artig war?«
»Zur Herstellung von Butterbällchen für Dinnerpartys.«
»Butterbällchen«, wiederholte ich.
»Du nimmst einen Klumpen Butter und rollst ihn zwischen den beiden Spateln. Anschließend gibst du das Bällchen in eine Schüssel mit Eiswasser. Die Rillen machen hübsche Muster.«
Als ich
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