Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
ihre Enttäuschung über meinen Mangel an Begeisterung sah, sagte ich: »Wie lieb von dir. Wollen wir sie gleich heute Abend einweihen?«
Es war lieb von ihr, nicht nur dass sie mir Butterspatel schenkte, sondern dass sie überhaupt den ganzen Weg gekommen war, um nach mir zu sehen.
Die Sache war, meine Mutter hatte eine Art archäologische Schwäche für die Küchenutensilien ihrer Jugend: Kartoffelpressen, gusseiserne Fleischwölfe, die man am Tisch festschraubte, rostgefleckte Schneebesen mit rot lackierten Holzgriffen, mattschwarze Picknickthermosflaschen, von innen mit rissigem Silberglas verkleidet und unterdem verbeulten Becherdeckel mit einem richtigen Korken verschlossen.
Sie fand das Zeug auf Trödelmärkten oder Kirchenbasaren, und dann schenkte sie es uns zu Weihnachten und zu Geburtstagen oder als Mitbringsel, die sie uns bei ihren Besuchen stolz in die Hand drückte. Und trotz der generellen Nutzlosigkeit dieser Gerätschaften, abgesehen von den mikroskopischen Dimensionen unserer großstädtischen Küchennische, brachten wir es nicht übers Herz, ihre Artefakte wegzuschmeißen.
Dass Mom sie in ihrer Kindheit hauptsächlich in den Händen des Küchenpersonals gesehen haben konnte, verstärkte den Duft der Nostalgie für sie vielleicht noch, aber ich fand es trotzdem rührend, dass sie uns unbedingt mit all dem modernen Zubehör des Gourmets im Zweiten Weltkrieg ausstatten wollte.
Nicht zuletzt war es eine Erinnerung daran, dass ich nicht die Einzige unserer Linie war, die an der Vergangenheit hing.
Ich legte die Spatel auf die Theke und machte den Eisschrank auf. »Wir haben keine Butter mehr. Soll ich Pagan anrufen und sie bitten, dass sie auf dem Heimweg welche mitbringt?«
»Wir müssen die Butterspatel nicht heute Abend benutzen. Ich dachte nur, du findest sie witzig.«
»Das tue ich. Sie sind toll.«
Mom ließ Wasser in den Suppentopf laufen und stellte ihn auf den Herd, um Pasta zu kochen. »Dean ist verreist?«
»In Louisiana, bis Samstag.«
»Dann sind wir nur vier. Wann kommen Sue und Pagan nach Hause?«
Ich warf einen Blick auf die Elvis-Uhr, die an einem Nagel über der Tür hing. »Frühestens in einer Stunde.«
Und da waren wir wieder, nur sie und ich in unserer winzigen Küche, ich an der Spüle und Mom am Herd.
Ich sah zu, wie sie den Deckel auf den Topf legte und die Flamme aufdrehte.
»Bist du einsam, wenn Dean weg ist, oder genießt du es, ein bisschen Raum zu haben?«, fragte sie.
»Beides, glaube ich.«
Falls ich sie auf Pierce ansprechen wollte, wäre dieser Moment der richtige, aber alles war so verworren – meine Schuld, ihre Güte und die tausendfach verästelten Dinge, die kaum merklich um uns und zwischen uns waberten.
Es wäre so viel leichter gewesen, mich einfach auf das seichte Geplauder einzulassen, das ihr am liebsten war – sie nach Larry zu fragen und warum sie so plötzlich beschlossen hatte, zum vierten Mal zu heiraten, und vielleicht ein paar Witze darüber zu machen, dass die Reihe ihrer Initialen inzwischen viel zu lang für ein Monogramm war.
»Moms Neuer« war für uns nichts Neues. Mindestens ein Jahr lang würde sie uns vernachlässigen, weil sie vollauf damit beschäftigt wäre, irgendein männliches Ego zu streicheln und so zu tun, als könnte sie keine Dose selbst öffnen und hätte noch nie eine politische Meinung gehabt. Und vielleicht tat sie auch gar nicht so und hatte es einfach nur vergessen.
Natürlich war es heute viel weniger schlimm als damals, als wir Kinder waren. Erstens mussten wir nicht mit dem Kerl leben. Wir mussten nicht – schon wieder – unsere Plätze am Esstisch tauschen, um ihm seine bevorzugte Futterstelle einzuräumen, oder uns die neueste Ökokost reinwürgen, der er anhing, oder lernen, welche scheinbar unschuldigen Stichworte diesmal zu Y-Chromosom-bedingten Wutanfällen führten.
Und wir mussten nicht mit ansehen, wie Moms Loyalität mit jeder Herausforderung schrumpfte, verkümmerte wie mein Arm in seinem Gips. Wenigstens nicht Tag für Tag.
»Hey, Mom«, sagte ich. »Setzt du dich einen Moment mit mir ins Wohnzimmer?«
38
Ich saß barfuß im Schneidersitz auf dem Sofa, den Rücken an der Armlehne, den Gips auf einem Kissen in meinem Schoß.
Mom saß am anderen Ende. »Soll ich Musik auflegen?«
»Ich wollte dich was fragen«, sagte ich.
Mechanisch griff sie nach dem Weinglas. »Wie wär’s mit einer Oper? Oder diesem guten Klassiksender?«
» The Weavers at Carnegie Hall ?« Ich brauchte die
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