Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Richter.
Er hatte einen High Fade – die Haare am Hinterkopf und an den Seiten ausrasiert und oben kastenförmig getrimmt – und trug einen braunen Blazer. Unter dem weißen Kragen und der schwarzen Strickkrawatte konnte ich die Umrisse seines Unterhemds sehen.
Williams hielt einen Bleistift in der linken Hand. Vor ihm lag ein gelber Collegeblock, in den er zwar nicht schrieb, doch er hob den Blick nicht von der linierten Seite.
Die zierliche Frau neben ihm war seine Pflichtverteidigerin, nahm ich an. Sie hatte sehr blasse Haut und Locken, die so rabenschwarz waren, dass sie in ihrer Freizeit als Gruftie in der Midlife-Crisis durchgegangen wäre. Von Kyle wusste ich, dass sie Galloway hieß. Er hatte gesagt, sie sei gut.
Doch Ms Galloway verblasste neben dem bunten Gefieder von Marty Hetzler, dessen blauweiße Mähne sich grell von ihren stumpfen schwarzen Locken abhob.
Marty war braun gebrannt, als käme er frisch aus Florida, und trug ein scharlachrotes Einstecktuch passend zur Krawatte. Selbst aus der Entfernung erkannte ich die Initialen am Rand seines dunkelblauen Revers: Pierre Cardin via Kowloon.
Schließlich richtete ich den Blick auf die Frau, die am Mittelgang saß: Angela Underhill.
Teddys Mutter trug ein biederes Blümchenkleid mit einem Spitzenkragen und einer Reihe von rosa Perlknöpfen darunter.
Sie sah mir direkt in die Augen, und sie musste etwa im achten Monat schwanger sein.
43
Angela Underhill funkelte mich an. Ich starrte ihren Bauch an, dann erwiderte ich ihren Blick.
Abgerechnet wird zum Schluss.
Dass sie sich von dem Mann hatte schwängern lassen, der ihr erstes Kind totgeschlagen hatte, war für mich nichts, worauf sie sich was einbilden konnte.
Louise Bost stand auf und trat hinter dem Anklagetisch hervor.
Sie trug rosa Bouclé mit einer Perlenkette, teure Feinstrümpfe und eine große Schleife im Haar. Ich fragte mich, ob sie bewusst auf Hello Kitty setzte, um Angelas Kirchenchorumstandsmode auszustechen.
»Guten Tag, Ms Dare«, sagte sie.
Ich beugte mich über das Mikrofon, das vor mir stand. »Guten Tag.«
»Heute Vormittag haben wir Cate Ludlams Aussage gehört, die über ihre Initiative bei der Wiederherstellung des Friedhofs in Jamaica gesprochen hat. Würden Sie uns bitte sagen, wie es dazu kam, dass Sie letzten September auch dort waren?«
Sie leitete mich durch Cates und meine erste Begegnung auf der Party mit Sophia vor so langer Zeit, unsere Verwandtschaft und alles andere, was dazu geführt hatte, dass ich nach Jamaica kam.
Ich sah mich im Gerichtssaal um. Cate und Kyle in der zweitletzten Reihe streckten diskret die Daumen hoch.
Louise Bost fuhr fort. »Am Nachmittag des neunzehnten September besuchten sie den Friedhof zum ersten Mal?«
»Das ist richtig«, sagte ich.
Die nächsten Fragen stellte sie in der gleichen Reihenfolge wie bei meiner Aussage vor der Geschworenenjury.
Dann kamen wir an die Stelle, als ich vor dem Dickicht stand und die Gartenhandschuhe auszog.
»Und was sahen Sie, als Sie sich bückten, um die Getränkedose aufzuheben?«
»Noch einen Grabstein«, sagte ich.
Ab hier wurden ihre Fragen sehr viel ausführlicher als vor der Jury. Ich nahm an, sie wollte bestimmte Punkte bis ins Detail klären, um spätere Fragen der Verteidigung schon im Voraus auszuräumen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, woran sie dachte.
»Haben Sie sofort gesehen, dass da etwas neben dem Grabstein lag?«
»Nein, aber dann erschreckte ich mich und wich seitlich aus.«
»Warum?«
»Weil auf dem Boden eine tote Ratte lag.«
»Was haben Sie dann gesehen?«
»Etwas Weißes. Zuerst dachte ich, es wäre vielleicht ein Ei.« Meine Kehle war trocken. Ich hätte alles für ein Glas Wasser gegeben.
»Sind Sie tiefer ins Dickicht gekrochen?«
»Ja. Als ich etwa einen halben Meter näher dran war, wusste ich genau, was es war.«
»Was war das für ein Gegenstand, Ms Dare?«
»Es war der Schädel eines Kindes.« Ich sah Angela Underhill an, die anscheinend fasziniert von der weißen Wand links von ihr war.
»Woher wussten Sie, dass es der Schädel eines Kindes war?«, fragte Louise Bost.
»Er hatte noch die Milchzähne.«
Die Geschworenen machten traurige Mienen, besonders die Frauen.
Albert Williams wirkte einfach nur gelangweilt. Er begann, mit dem Bleistift zu spielen, ihn auf dem Tisch kreisen zu lassen.
Einer der Geschworenen beobachtete ihn ebenfalls – nach seinem Blick zu urteilen genauso empört wie ich.
Gut.
»Konnten Sie sonst noch etwas
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