Der Junge, der Anne Frank liebte
meine. Das war der Punkt. Die Nummer war das einzige Individuelle, das man uns gelassen hatte. Einer nach dem anderen waren wir zum Tisch gegangen, Herr Frank, Dr. Pfeffer, mein Vater und ich, und hatten, wie verlangt, unsere Arme hingehalten. Wir hatten Glück. Wir verstanden Deutsch. Diejenigen, die es nicht konnten und nicht wußten, was man von ihnen wollte, wurden getreten und geschlagen und Schlimmeres. Aber wir wurden an jenem Tag nur numeriert, mit fortlaufenden Nummern. Meine unterschied sich von der meines Vaters nur durch eine Ziffer. Mein unauslöschliches Vermächtnis.
»Dafür gibt es die moderne plastische Chirurgie«, sagte Dr. Miller, als er die Tür öffnete und einen Schritt zur Seite trat, um mich hinauszulassen. »Wir radieren die Vergangenheit aus.«
Auf der Heimfahrt hatte ich das Gefühl, als säße er neben mir, sein linker Arm ruhte auf dem braunen Lederpolster des Beifahrersitzes. Die rußdunkle Nummer, bis auf die letzte Ziffer mit meiner identisch, hob sich von der Haut ab, die blaß war von zwei Jahren ohne Sonnenlicht.
Ich streckte die Hand aus und machte das Autoradio an. Ike erholte sich gut von seinem Herzinfarkt, und Roy Campanella hatte einen Zwei-Punkte-Homerun im ersten Spielabschnitt erzielt und damit die Hoffnung wieder geschürt, die Dodgers würden doch einen Meisterschaftstitel gewinnen, und einige tausend Menschen hatten eine Carnegie-Hall-Kundgebung besucht, zur Befreiung von Morton Sobell, der zwanzig Jahre für seine Beteiligung am Spionagefall Julius und Ethel Rosenberg bekommen hatte. Die Rosenbergs waren vor über zwei Jahren auf dem elektrischen Stuhl gelandet, und noch immer ging kein Monat vorbei, ohne daß irgendeine Organisation schwor, altes Unrecht wiedergutzumachen. Die Menschen sollten es besser wissen, man kann altes Unrecht nicht wiedergutmachen. Es war eine traurige Angelegenheit, diese elektrische Hinrichtung eines normalen Ehepaares, einer Mutter und eines Vaters, Juden, wie mein Schwiegervater betont hatte, als ob ihre Religionszugehörigkeit nicht nur für ihre Verurteilung verantwortlich wäre, sondern auch für seine Scham. Beides zusammen geht nicht, wollte ich zu ihm sagen. Wenn sie unschuldige Sündenböcke waren, kannst du nicht durch Zugehörigkeit schuldig sein.
Weißt du, wen ich wegen des Falls Rosenberg beschuldige, hätte ich gern zu ihm gesagt. Julius und Ethel. Nicht wegen Spionage. Es ist mir egal, ob sie Spione waren oder nicht. Ich beschuldige sie, weil sie zum elektrischen Stuhl gegangen sind. Ich beschuldige sie, weil sie diese zwei kleinen Jungen zu Waisen gemacht haben.
Ich sehe noch immer das Zeitungsfoto der beiden vor mir, in ihren karierten Jacken und mit Schirmmützen auf dem Kopf. Michael und Robert. Gute amerikanische Namen. Michael und Robert Rosenberg lächeln auf diesem Foto. Der Verteidiger führt sie nach Sing Sing, es ist vielleicht das letzte Mal, daß sie ihre Eltern sehen werden, und diese armen, ahnungslosen Jungen lächeln. Sie wissen nicht, was ihnen bevorsteht. Aber ich könnte es ihnen sagen. Ich sehe, wie sie auf diesem Foto nebeneinander hergehen, der Ältere hat den Arm um die Schulter seines jüngeren Bruders gelegt, und ich kann alles fühlen. Ich spüre die rauhe Wolle der karierten Jacke, die an meinem Hals und an meinen Handgelenken kratzt. Ich sehe, wie die Gewehre der Wachleute ölig-schwarz in der Sonne glänzen. Ich höre die Schreie um Gnade, um Rettung, darum, daß irgend jemand eingreifen möge. Egal, ob die Zeitungen berichtet haben, die Eltern seien mit ruhiger Gefaßtheit in den Tod gegangen. Was wissen Zeitungen schon von solchen Dingen? Diese beiden kleinen Jungen werden für den Rest ihres Lebens die Schreie ihrer Eltern hören. Das ist es, was ich Julius und Ethel Rosenberg vorwerfe. Sie hätten die Exekution jederzeit stoppen können. Eine Telefonleitung nach Washington war bis zum letzten Moment offen. Sie hätten nur ihre Schuld eingestehen müssen, und das Todesurteil wäre rechtzeitig in eine Gefängnisstrafe umgewandelt worden. Diese beiden Jungen hätten sie besuchen können. Und dann, wenn sie Männer geworden wären, vielleicht in meinem Alter, wären die Eltern möglicherweise begnadigt worden. Die meisten Menschen haben nicht so viel Glück. Die meisten Menschen bekommen nicht die Chance, sich selbst oder ihre Familien zu retten.
Ich machte das Radio aus. Die Rosenbergs hatten nichts mit mir zu tun. Ich war noch nicht einmal durch religiöse Zugehörigkeit
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