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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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betroffen, wie mein Schwiegervater meint, obwohl ich zugebe, daß alte Gewohnheiten nur schwer sterben. Mein Instinkt teilt die Welt noch immer in Juden und Nichtjuden ein. Mit dem einzigen Unterschied, daß ich jetzt auf der sicheren Seite bin.
     Ich bog in die Seminole Road ein. Inzwischen erwartete ich schon keine rauchenden Ruinen mehr, auch keine Wälder an der Stelle, wo nie Häuser gestanden hatten. Ich ging davon aus, daß das Haus da war, frisch gestrichen, mit sauberen Dachrinnen und gepflegten Büschen, beschattet von den Bäumen, die um das Haus herum fast so schnell wuchsen wie meine Töchter. Ich fuhr inzwischen auch nicht mehr mit beiden Füßen. Manchmal nahm ich sogar eine Hand vom Lenkrad. Und in ein paar Wochen würde ich keine Nummer mehr haben, noch nicht einmal eine Narbe, hatte Dr. Miller versprochen, während er auf einen Punkt über meinem Kopf gestarrt hatte.
     Ich erzählte Madeleine nichts von meinem Treffen mit Dr. Miller. Warum hätte ich sie im voraus beunruhigen sollen? Außerdem wußte ich, daß sie erleichtert sein würde. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie sich gefürchtet, die Tätowierung zu berühren. Sogar wenn wir uns liebten, vermied sie das. Inzwischen war sie nicht mehr so zimperlich deswegen, aber das hieß nicht, daß sie über ihr Verschwinden traurig wäre. Wer möchte so etwas schon behalten? Doch das würde sie nie sagen. Sie hatte zu viel Ehrfurcht vor meiner Vergangenheit, um vorzuschlagen, daran zu rühren. Sie war zu weichherzig, um zu riskieren, daß mir etwas weh tat. Aber ich machte es für uns alle.
     Ich wartete bis zum Abend vor dem Termin, bis ich es ihr mitteilte. Der Doktor hatte gesagt, ich würde jemanden brauchen, der mich nach Hause fuhr. Ich hatte widersprochen, ich könne das sehr wohl allein tun, aber er hatte nur sein ungerührtes Lächeln aufgesetzt und gesagt, er sei der Doktor. Ich mochte Millers unbefangene Art ebensowenig, wie ich Gabors Unaufrichtigkeit gemocht hatte.
     Wir gingen gerade ins Bett, als ich das Thema zur Sprache brachte. Ich hatte es nicht vor den Mädchen tun wollen. Sie würden den Verband bemerken, aber sobald er verschwunden wäre, würden sie vergessen, daß die Nummer je dagewesen war. Kinder haben ein kurzes Gedächtnis. Manche Erwachsenen zum Glück auch.
     »Ich war beim Arzt.« Ich zog meine Schuhe aus und hatte das Gesicht vorgeneigt, als ich das sagte. Es war eine Feststellung, keine Aufforderung zur Diskussion.
     »Fehlt dir was?« Ihre Stimme hob sich alarmiert um eine halbe Oktave.
     »Es geht mir gut. Es handelt sich nur um eine chirurgische Entfernung.«
     Ich fühlte, wie sie hinter mir stand auf der anderen Seite des Bettes und wartete. An ihrer Stelle hätte ich gewußt, was kam, aber ich würde nie an ihrer Stelle sein können, so wie sie nie an meiner.
     »Ich lasse mir die Nummer entfernen, die an meinem Arm«, sagte ich, als gäbe es noch eine andere.
     Sie antwortete nicht sofort, aber ich wußte, was ihr durch den Kopf ging. Sie war froh, wenn sie verschwand, konnte aber nicht zugeben, daß sie froh war, denn damit würde sie ja eingestehen, daß sie sie abstieß.
     »Ist es gefährlich?« fragte sie schließlich.
    Ich hatte also recht gehabt.
    »Nur ein Stück Kuchen.«
     Das war eine von Harrys Formulierungen, und der muntere Ton schien mir der Situation angemessen.
     Ich schaute rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sie sich dehnte, nachdem sie aus ihrer Hose gestiegen war. Ihr Bauch wölbte sich gegen die jungfräulich weiße Baumwollunterhose. Die Haut darüber war gespannt und dünn und so blaß wie Pergament und stach gegen ihre gelblichbraunen Arme und Beine ab.
     »Der Doktor macht es in seiner Praxis. Mit lokaler Betäubung.«
     »Bist du sicher, daß du das willst?«
     »Ich habe mich dazu entschlossen.«
     »Wann?«
     »Vor zwei Wochen.«
     »Ich meine, wann läßt du es machen?«
     Ich trug meine Schuhe zum begehbaren Kleiderschrank. »Gleich morgen früh.«
     »Morgen früh!« Die Worte wurden von der Tür, die mich vor ihr verbarg, gedämpft.
     »Wenn ich es dir eher gesagt hätte«, rief ich von innerhalb des Schranks, »hättest du dir Sorgen gemacht. Ich wollte es dir eigentlich erst sagen, wenn es vorbei wäre, aber der Doktor hat gemeint, ich brauchte jemanden, der mich heimfährt.«
     »Ich wünschte, du hättest mich vorgewarnt. Was hätte ich getan, wenn es nicht einer von Frau Goralskis Tagen wäre?«
     Frau Goralski kam dreimal in der Woche zum Putzen,

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