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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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»verfolgungsbedingt«. Wenn ich das täte, hätte ich dann eine erfolgreiche Firma aufgebaut?
     Hätte ich eine Familie gegründet und wäre zu einem Stützpfeiler der Gesellschaft geworden? Die Staatliche Wohnungsbauvereinigung gibt Männern, die in ihrer Vergangenheit gefangen sind, keine Preise. Ich verurteile solche armen Menschen nicht wegen ihrer Probleme. Ich wünsche ihnen jede Hilfe und jede Entschädigung, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, welche Entschädigung es dafür geben könnte. Aber ich bin keiner von ihnen.
     Ich war an jenem Nachmittag allein mit David. Auch das ist ein Argument, das für mich spricht. Man läßt kein Baby allein mit einem Mann, auf den das Wort verfolgungsbedingt zutreffen könnte. Madeleine wäre nie mit den Mädchen weggegangen und hätte David bei mir gelassen, wenn sie gedacht hätte, ich könne eine Gefahr für ihn sein. Ich würde es auch nicht zugelassen haben, wenn ich gedacht hätte, ich könnte ihm weh tun.
     David war oben und schlief. Ich saß am Küchentisch, mit einem Glas Eistee, das vom Mittagessen übriggeblieben war, und dem Kreuzworträtsel der Times, Leute mit Symptomen, die man als verfolgungsbedingt einordnet, können auch keine Kreuzworträtsel lösen. Ich hatte erst kürzlich damit begonnen, obwohl ich seit damals, seit jenen endlosen Stunden im Hinterhaus, kein Kreuzworträtsel mehr angeschaut hatte. Zweifellos würde mein alter Freund Gabor irgendwelche Schlüsse daraus ziehen. Aber er hätte unrecht. Ich hatte jetzt einfach mehr Zeit. Das war auch der Grund, daß ich das Tagebuch herausgenommen hatte, um es noch einmal zu lesen. Das und die Tatsache, sicher sein zu wollen, daß nichts von irgendeinem Brotdiebstahl meines Vaters drinstand. Nichts, natürlich nichts. Dieses Fehlen war beruhigend. Der Film würde in Vergessenheit geraten. Das Stück lief auch nicht mehr in den Theatern, auch das Stück würde sterben. All diese europäischen Theater konnten nicht ewig damit weitermachen. Wenn etwas überdauern würde, dann war es das Buch. Der Blick eines dreizehnjährigen Mädchens mag nicht so verläßlich sein wie die Encyclopedia Britannica, aber es enthielt wenigstens nicht diesen Haufen Lügen, den das Theaterstück und der Film hervorgebracht hatten.
     Ein Eintrag des Buchs störte mich allerdings doch. Es war die Nacht, in der ich es versäumt hatte, die Tür aufzuriegeln, so daß Kugler und die Lagerarbeiter am nächsten Morgen nicht ins Haus konnten. Ich hatte diesen Vorfall verdrängt. Er war unbedeutend. Er hatte uns nicht verraten. Aber nun kehrte die Erinnerung zurück. Manchmal, wenn ich in einer Sitzung saß oder auf der Autobahn fuhr, konnte ich nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken, wenn es mir wieder einfiel. Eines Abends, als ich hinunterging, um die Tür zur Seminole Road abzuschließen, sah ich plötzlich die anklagenden Gesichter der Hinterhausbewohner, die mich aus den dunklen Fenstern heraus anstarrten.
     »Es tut mir leid«, murmelte ich. »Ich wollte sie aufriegeln. Ich dachte, ich hätte sie aufgeriegelt.«
     »Was hast du gesagt?« rief Madeleine von der oberen Diele herunter.
     Ich sagte, ich hätte nichts gesagt. Es wäre der Fernseher gewesen, den wir vergessen hätten auszuschalten.
     Der schwere Messingklopfer schlug an die Haustür. Ich stand von meinem Kreuzworträtsel auf. Niemand in Indian Hills benutzt die Vordertür. Die Leute gehen von der Auffahrt durch die Garage und dann von hinten ins Wohnzimmer. Auch Kugler hatte an jenem Morgen, nachdem ich vergessen hatte, die Vordertür aufzuriegeln, als wir hinaufgingen, nicht an die Tür geklopft, angeblich war ja niemand im Haus. Er ging zur Tür und schlug das Küchenfenster des Büros auf. Wer kann wissen, ob ihn niemand gesehen hat? Weil an jenem Morgen niemand kam, um uns abzuholen, hieß das noch lange nicht, daß ich nicht doch schuld daran war und uns in der Nacht verraten hatte. Die Grüne Polizei hatte zwar nicht an die Haustür geklopft, aber wir hatten ein Klopfen erwartet. Da hatte der Filmregisseur recht. Nachts, im Schlaf, träumten wir von diesem Geräusch, und tagsüber stellten wir es uns vor. Pst, sagten wir und fragten uns: Was war das? War da nicht etwas an der Tür?
     Der Messingklopfer war wieder zu hören. Ich war froh, daß Madeleine und die Kinder nicht zu Hause waren. Ich hoffte nur, sie würden schon von weitem den Lastwagen sehen, der auf der Straße stand und wartete, und genug Verstand haben, schnell umzukehren. Ich hätte

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