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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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über dem schon etwas zurückgewichenen Haaransatz war dicht und borstig. Als der Staatsanwalt ihn aufforderte vorzutreten, ging er tänzelnd wie ein Boxer durch den Saal.
     Der Staatsanwalt begann, ihn über seine früheren Verhandlungen mit Otto Frank auszufragen. Er besitze keinen schriftlichen Vertrag zur Theaterbearbeitung des Tagebuchs, gab Levin zu, aber er habe eine mündliche Zusage gehabt. »Ich habe Herrn Frank vertraut.«
     Der Mann auf dem Stuhl vor mir beugte sich vor. Sein Nebenmann – einer aus einem ehemaligen D.-P.-Lager, keine Ahnung, woher ich das wußte, ich wußte es einfach – legte die Hand hinters Ohr, um keines von Levins Worten zu verpassen. Mein Blick wanderte die Reihe entlang und blieb an der Frau auf dem letzten Platz hängen. Ich hatte angenommen, sie lebe noch immer in Amsterdam oder sei vielleicht sogar nach Deutschland zurückgekehrt. Sie war keine Jüdin. Sie hatte nichts zu befürchten. Aber sie mußte es sein, da war ich mir ganz sicher.
     Ich beugte mich vor, um ihr Profil besser zu sehen. Ihr Kinn war zu einem kleinen, gerundeten Beutel geworden. Eine Falte, dunkel wie ein Kohlenstrich, hing in ihrem Mundwinkel wie ein unglückliches Komma. Ihre blonden Locken unter dem schlappen, braunen Hut waren von einem trüben, silbrigen Gelb. Auch ihr Kostüm war braun und mit einem mottenzerfressenen Pelzkragen besetzt. So etwas hatte ich nicht mehr gesehen, seit ich das Marseilles verlassen hatte. Angesichts des Kostüms nahm ich an, daß sie nicht in Amerika lebte, sondern nur zu Besuch hier war. Sie war wegen des Prozesses gekommen. Sie war wegen ihres Mannes gekommen, obwohl meine Mutter meinem Vater gegenüber immer wieder betonte, allerdings nicht in Pfeffers Anwesenheit, daß er eigentlich nicht ihr Mann war. Mein Vater hieß meine Mutter zu schweigen, wenn sie so etwas sagte. Nur die Rassengesetze hatten Pfeffer davon abgehalten, Charlotte zu heiraten. Man könne es ihr nicht anlasten, beharrte er. Mein Vater hatte immer eine Schwäche für Charlotte gehabt. Wer konnte es ihm übelnehmen? Sie war ein Jean-Harlow-Typ. Sie muß damals, als ich sie ein paarmal gesehen hatte, bevor wir untertauchten, in den Dreißigern gewesen sein, aber nachts zwischen säuerlich stinkenden Bettüchern – sogar wenn wir im Hinterhaus Seife bekamen, reichte das nicht für all den Schmutz in unserem Leben – schwand der Altersunterschied zwischen Charlotte Pfeffer und mir. Hier, in einem New Yorker Gerichtssaal, unter den ernsten Blicken von Alexander Hamilton, Dwight D.
     Eisenhower und Averell Harriman, hörte ich das Echo meines unterdrückten Stöhnens, als ich in dem Verschlag unter der Stufe lag, an Charlotte dachte und mich in Gedanken mit ihr paarte. Dann übertönte die Stimme meines Vaters mein Stöhnen.
     »Wir sind den ganzen Tag auf Zehenspitzen und in Strümpfen herumgelaufen, um uns nicht der Gefahr auszusetzen, daß uns jemand hört, und dieser Romeo hier schickt durch Miep Liebesbriefe. Warum hängen wir nicht gleich eine Fahne aus dem Fenster: Hier sind Juden untergetaucht?«
     Pfeffer fand seine Stimme wieder, gepreßt vor gekränkter Ehre, jämmerlich wegen der unterdrückten Tränen. »Für Sie ist es einfach, so zu sprechen, Sie und Frank, mit Ihren Frauen und Kindern. Ich habe meine Frau seit über einem Jahr nicht gesehen. Wer weiß, wo mein Sohn ist? Irgendwo in England, das ist das letzte, was ich gehört habe.«
     Ein Glückspilz, hatte ich immer gedacht, ein Glückspilz, dieser Werner Pfeffer irgendwo in England. Ein glücklicher Junge, dessen Vater weitsichtig genug gewesen war, ihn gerade noch rechtzeitig auf einen Kindertransport zu schicken.
     Ich beobachtete Charlotte, während ich Meyer Levins Zeugenaussage hörte. Er sprach von Fehlinterpretation. Er benutzte die Formulierungen »bewußte Täuschung« und »Respektlosigkeit«. Charlottes altersschlaffes Kinn bewegte sich zustimmend auf und ab.
     Als ich am folgenden Montagmorgen im Gerichtssaal ankam, saß sie am selben Platz wie am vergangenen Freitag. Der Platz neben ihr war frei, ich konnte nicht widerstehen. Ich wollte sie genauer sehen können. Ich war auch neugierig, ob ihr irgend etwas an mir bekannt vorkommen würde, obwohl das unwahrscheinlich war. Otto, der damals mit mir zusammengelebt hatte, erkannte hatte mich nicht, und Charlotte hatte mich nur einige Male gesehen, als ich noch ein Junge gewesen war.
     Ich hielt am Rand der Reihe inne, wo sie saß, und fragte, ob der Platz neben ihr noch

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