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Der Junge, der es regnen liess

Der Junge, der es regnen liess

Titel: Der Junge, der es regnen liess Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Conaghan
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das oft so. Daher kam unser Gespräch über das Niveau von »Kannst du das bitte ein bisschen leiser machen?« nicht hinaus. Lesen konnte ich nicht, wenn ich meiner Mutter nicht auf ihre brandneue Dauerwelle kotzen wollte. Ich fahre nicht gern Auto. Alles zischte nur so vorbei, in einer Folge aus Grau, Grün und Weiß. Ich fixierte meinen Blick auf eine tote Fliege, die an der Fensterscheibe klebte. Das Auto war dreckig. Es hätte schlimmer kommen können, die Fliege hätte ich sein können. Ich aber lebte und brannte darauf, anzukommen.
    Die M6 war das Nördlichste, was ich in England bisher gesehen hatte. Aus unbestimmten Gründen konnte ich erkennen, dass es der Norden war, durch den wir reisten. Man hört Geschichten über die Teilung, die für gewöhnlich geprägt von dem Snobismus sind, mit dem der Süden auf den Norden herabblickt. Ich muss jedoch zugeben, dass die Umgebung öder wurde, je weiter wir nach Norden kamen. Vor vierzig oder auch noch vor zwanzig Jahren wäre der Himmel schwarz vom Rauch der Hochöfen, der Fabrikschornsteine, der Arbeitsstätten gewesen. Jetzt war er nur grau von Regenwolken. Während wir auf der M6 in Richtung Schottland brausten, schienen sogar die Schafe etwas Resigniertes an sich zu haben, eine Art Vorahnung von dem, was uns nördlich der Grenze erwartete. Die Schafe mussten es wissen, sie hatten zweifellos Verwandte in Schottland.
    Und dann näherte sich uns das Schild: Willkommen in Schottland. Oder besser: Wir näherten uns ihm. Wir stießen einen vereinten Jubelruf aus, mehr aus rituellen Gründen als aus Freude. Dann kehrten wir alle wieder zu unseren eigenen Gedanken zurück, und ich wette, insgeheim dachte jeder von uns: Gott im Himmel! Ich tat es jedenfalls.
    Sobald wir nach Schottland kamen oder sobald wir England verließen (je nachdem, wie man es betrachten möchte), tauchten in rascher Folge Schilder mit der Aufschrift Glasgow auf. Wir brauchten ungefähr eine Stunde, um dem ländlichen Schottland zu entkommen. Danach gab es dann keinen Zweifel mehr daran, dass wir uns in unmittelbarer Nähe von Glasgow befanden. In der Ferne konnten wir Hochhäuser sehen, die wie monolithische Soldaten zum Appell strammstanden und uns den ganzen Weg über beobachteten. Uns beschützten, während wir näher kamen, vielleicht jede unserer Bewegungen registrierten.
    Dieses Willkommen war einschüchternd. Ich fragte mich, wie viele Menschen in dieser Stadt zusammengepfercht waren. Welches clevere Architektengehirn steckte hinter solchen Scheußlichkeiten? Was für verborgene Aktivitäten gingen in diesen kolossalen Betonklötzen und um sie herum vor? Was für ein Leben flog an den winzigen Wohnungen vorbei, aus denen sie bestanden? Dies war eine richtige Stadt mit richtigem Stadtcharakter. Von Eastbourne war es Millionen von Meilen entfernt. Es roch anders und fühlte sich kälter an. Auf dem Rücksitz des Autos schien es auch von uns eine Million Meilen weit entfernt zu sein.
    Während wir die neue Umgebung in uns aufnahmen, fiel zwischen uns kein einziges Wort. Zum Teufel … Gott im Himmel, steh uns bei … und Scheiße waren zwar nicht hörbar, aber sie schwebten dennoch spürbar im Auto. Bis Mum das Schweigen brach:
    »Da sind wir also.«
    »Ja«, stimmte Dad zu.
    »Es ist so groß«, sagte Mum.
    »Ja.«
    »Ein bisschen anders als Eastbourne«, sagte sie in dem Versuch, dem Ganzen eine leichte Note zu verleihen.
    »Ja.«
    Ich hätte meinem Vater gern auf den Hinterkopf geklatscht.
    »Ich bin sicher, hier gibt es jede Menge Bücher- und Plattenläden, Clem«, sagte Mum.
    »Ja, kannst du’s kaum noch erwarten?«, fragte ich und verfluchte mich sofort für meine Unreife. Diesmal hätte ich gern mir selbst auf den Kopf geklatscht.
    »Ich wollte ja nur sagen, dass es hier sicher viel mehr zu unternehmen gibt.« In diesem Augenblick liebte ich meine Mutter. Sie hatte uns nicht in diesen Mist geritten. Ich wusste, es war nicht der Mann ihrer Träume, der da neben ihr saß und die Hände fest um das Steuerrad schloss.
    Bewegungslos.
    Gefühllos.
    Sie lächelte, bewahrte eine positive Haltung, behielt ihre Meinung für sich und ließ sich von Glasgows grauen Wolken nicht unterkriegen. Bleiben Sie mir vom Leib mit dieser Vater-und-Sohn-Scheiße. Ich war ein Muttersöhnchen. Sie war es, die mir leidtat. Die, die ich mir zum Vorbild nahm. Er konnte entfliehen und tun, was er ohnehin jeden Tag tat … Geld verdienen. Ich hatte Schule. Aber was hatte sie? Würde sie überhaupt in diesem Auto

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