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Der Junge, der es regnen liess

Der Junge, der es regnen liess

Titel: Der Junge, der es regnen liess Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Conaghan
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versuch’s.«
    »Versprochen?«
    »Versprochen«, sagte sie. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und schmeckte ihre salzigen Tränen, wohl wissend, dass sie dieses Versprechen nicht halten und sich auch nicht dazu verpflichten konnte.
    »Es wird sich schon alles regeln«, versicherte ich ihr.
    »Zum Guten?«, fragte sie.
    »Zum Guten.«
    »Komm, wir kümmern uns um dein Auge.«
     

 
    Frechheit
    Sie schaffte es, mein Auge zu berühren. Ich hatte sie nicht dazu aufgefordert, sie legte einfach einen Finger darauf, und dann streichelte sie es sacht mit vier Fingern. Als Erstes dachte ich an andere Leute, die sich womöglich in der Gegend herumtrieben. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich Angst und war mir nur allzu bewusst, wo ich mich befand. Auf dem Weg zur Schule war ich nervös gewesen, doch sobald ich durch den Haupteingang trat, verspürte ich ein eigentümliches Gefühl der Sicherheit. Die Gänge würden als eine Art Puffer fungieren und mich beschützen. Als Miss Croal jedoch ihre Hand auf mein Auge legte, schlug mein Herz in erschreckender Geschwindigkeit. Hart schluckte ich meinen Speichel hinunter und vernahm ein Krächzen in meiner Stimme.
    »Oh, Clem, was ist denn passiert?«
    »Nicht der Rede wert, Miss. Ich bin von einem Schneeball getroffen worden«, krächzte ich. Ich schämte mich. Fühlte mich ihrer zärtlichen Geste nicht würdig. Ich wollte die Situation unter Kontrolle haben, wollte ein Mann sein, der Welt und ihr zeigen, dass ich mit allen Eventualitäten fertig wurde, jedes Hindernis, das sich mir in den Weg stellte, überwand. Dass ich unbesiegbar war. Immun gegen das kindische Betragen von Schuljungen. Jetzt aber schien ich die lebende Verkörperung eben dieses Betragens und hatte auch noch das blaue Auge, das dazu passte. Zuvor hatte sie mich als Gleichberechtigten betrachtet, als Altersgenossen, jemanden, der debattieren, diskutieren und erklären konnte. Jetzt wollte sie sich um mich kümmern, wie es Lehrer von Natur aus tun … manchmal.
    Sie hatte Mitleid mit mir, spielte die verantwortungsvolle Lehrerin in ihrer Eigenschaft als fürsorgliche Betreuerin. Ich war jetzt nur noch irgendein Schuljunge. Angepasst und mit einem Etikett versehen.
    »Es sieht stark geschwollen aus, Clem.«
    »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
    Mein hämmerndes Herz bestätigte, dass ich war, für was sie mich hielt. Obwohl es noch früh am Morgen war, war ich starr vor Angst, eine von Rosies Freundinnen, namentlich Cora, könnte hinter der Ecke lauern und dies als körperlichen Beweis von Zuneigung missdeuten. Als Verbrechen. Das Ende für uns beide.
    Oder noch schlimmer, einer der NEDs würde einen Blick erhaschen, zwei und zwei zusammenzählen und achtzehn erhalten.
    Oder sogar noch schlimmer. McEvoy.
    In jedem Fall würde sich die Kunde schneller verbreiten als eine Prostituierte mit gebutterten Schenkeln. Noch vor der Frühstückspause würden Worte wie ILLEGAL, VERBOTEN und KÜNDIGUNG durch die Luft wirbeln. Wusste diese Frau nicht, was sie da machte? War ihr die Gefahr, in die sie sich brachte, nicht bewusst? War sie so himmelschreiend naiv?
    »Tut es weh, wenn man es berührt?«
    »Ein bisschen.«
    Der Schmerz war viel intensiver, als irgendeine Hand hätte bewirken können. Während des ganzen Gesprächs ließen ihre Finger mein Auge nie los. Es schien, als stünde die Zeit still, als wäre jede Bewegung verlangsamt, wie auf einem Friedhof. Ich hatte entsetzliche Angst, wir könnten erwischt werden.
    Bitte nehmen Sie Ihre Hand da weg, Miss. Miss, bitte nehmen Sie Ihre Hand weg. Ich denke nicht, dass Sie mich anfassen sollten. Sie übertreten eine Grenze. Sie werden damit erwischt.
    Tritt einen Schritt von dieser Frau zurück. Tritt einen Schritt von diesem Mann zurück. Von diesem Jungen. Halte Abstand von dieser verrückten Frau. Mein Blick fuhr nach links. Nach rechts. Noch einmal nach rechts. Links. Und wieder zurück. Ich strahlte Unbehaglichkeit aus. Sie musste es spüren, ohne Zweifel. Sie konnte es spüren.
    »Hast du das untersuchen lassen?«
    »Nein, aber in ein paar Tagen oder so wird es schon wieder in Ordnung sein.«
    Ich hörte Geräusche. Sie hörte Geräusche. Entfernte Stimmen. Näher kommend. Eine Frage. Eine schnatternde Herde. Feueralarm, keine Probe. Gefahr. Stimmen. Dann ließen ihre Finger mein Auge los. Nicht abrupt, sondern vorsichtig, ein Finger nach dem anderen, wobei sie meine Wange streichelte. Oder bildete ich mir das nur ein?
    Wir wichen beide einen winzigen Schritt

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