Der Junge, der mit den Piranhas schwamm
schon, Herr Pirelli.“
„Dann fangen wir an. Als Erstes kommt die Bildung. Lektion Nr. 1: Lerne alles über Piranhas. Hier sind ein paar Bücher.“
Pirelli guckt unter das Becken. Er zieht zwei zerfledderte Bücher hervor: ein uraltes Kinderlexikon und einen ebenso alten Atlas. Im ersten Buch erfährt Stan auf den verblichenen Seiten, dass Piranhas aggressive, fleischfressende Fische sind, die in den Flüssen Südamerikas leben. Dort heißt es: Man darf nicht in einem Fluss schwimmen, in dem Piranhas vermutet werden. Das zweite Buch zeigt ihm die Verläufe des Amazonas und des Orinoko durch die Wildnis Südamerikas und die Lage des Pantanals. Da steht: Der größte Teil dieses riesigen Gebietes ist noch nicht erforscht.
„Das wusstest du natürlich alles schon“, sagt Pirelli. „Ach übrigens: Kannst du schwimmen?“
Stan erinnert sich an seine Zeit in der Schule, als seine Klasse im Fischzucht-Hallenbad Schwimmunterricht hatte. Wie er mit Dutzenden anderer Kinder im Wasser herumplanschte, während der Lehrer in seinem grauen Anzug am Rand des Beckens stand und sie anschrie, sie sollten sich gefälligst benehmen.
„Ja“, sagt er. „Oder wenigstens konnte ich es mal. Ich habe meine Seepferdchen-Prüfung bestanden.“
„Gut“, sagt Pirelli, „obwohl das hier eine andere Art von Schwimmen ist. Mehr ein kontrolliertes Sinken, würde ich sagen. Wir müssen an deiner Atmung arbeiten. Halt die Luft an.“
„Wie bitte?“, fragt Stan.
„Hol tief Luft und halte sie an, solange es geht.“
Stan atmet tief ein. Er hält die Luft an. Fünfzehn Sekunden vergehen. Er hat das Gefühl, dass er gleich platzen muss. Er atmet laut aus und saugt die Luft wieder ein.
„Wir trainieren so lange, bis du es eine Minute lang aushältst. Das müsste bis Ende der Woche zu schaffen sein. Kannst du tanzen?“, fragt Pirelli.
Darüber hat Stan noch nie nachgedacht. „Ich weiß nicht“, sagt er ratlos.
„Als ich in deinem Alter war, ging es mir genauso. Onkel Harry und Tante Fred hielten nicht viel vom Tanzen. Was ist mit deinem Onkel und deiner Tante?“
„Die wohl auch nicht“, sagt Stan.
„Das dachte ich mir. Aber ich könnte mir vorstellen, dass du ein Naturtalent bist, wie auch ich eins war. Versuch’s mal, bitte.“
„Was versuchen?“
„Zu tanzen. Bewege dich einfach so, als ob du unter Wasser zu einer Musik tanzen würdest, die nur du hörst. Mach schon. Nur keine falsche Scheu.“
Stan schaut sich um. Ein paar Leute sind stehen geblieben und schauen zu. Pancho ruft ihnen zu: „Die Vorstellung ist erst heute Abend. Bitte kommen Sie später wieder.“
Ein paar Leute gehen weiter, andere bleiben stehen. Einer von ihnen ist Kitzel-Peter. Stan winkt. Peter winkt düster zurück.
„Das ist Stanley Potts!“, ruft Pirelli. „Er wird mal einer der ganz Großen werden!“ Dann ergänzt er: „Aber bis zu seinem ersten Auftritt wird es noch eine Weile dauern.“ Er wendet sich wieder Stan zu. „Beachte sie gar nicht. Sie bekommen noch früh genug etwas zu sehen. Jetzt zeig mir, ob du tanzen kannst.“
Stan schabt ein bisschen mit den Füßen. Er wackelt mit den Hüften. Er wippt mit dem Kopf auf und ab.
„Daran arbeiten wir noch“, sagt Pirelli. „Jetzt kommt die wahre Prüfung. Du musst dich dem Piranha in deinem Inneren stellen.“
„Dem Piranha in meinem Inneren?“, fragt Stan.
„Du musst dir vorstellen, dass die Fische neben dir schwimmen. Du musst dir vorstellen, dass du mit ihnen schwimmst. Du musst ihnen in die Augen schauen und ihnen zeigen, dass du todesmutig bist. Kannst du das?“
Stan zuckt mit den Schultern. Das scheint nicht so schwer zu sein.
„Mach die Augen zu und tu es“, sagt Pancho. Stan schließt die Augen. „Sieh die Flossen und Schuppen und Zähne vor dir. Fühle, wie Flossen und Schwänze deine Haut berühren. Kannst du dir das alles vorstellen?“
„Ja“, sagt Stan.
„Sehr gut. Jetzt schau ihnen in die Augen. Sei ruhig und selbstbewusst.“
Das kann Stan gut. Er sieht die Fische. Er fühlt die Kühle des Wassers. Er sieht die Zähne. Er fühlt die Schwänze und Flossen. Das ist recht angenehm, so ähnlich wie in den Träumen, in denen er mit seinen Goldfischen schwimmt.
„Haben sie dich schon gebissen?“, fragt Pirelli.
„ Was?“ , sagt Stan.
„Haben sie dich gebissen? Ist da irgendwo Blut?“
Stan seufzt. Natürlich haben sie ihn nicht gebissen! „Nein“, sagt er.
„Ausgezeichnet. Mach die Augen wieder auf.“
Stan öffnet die
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