Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
weiter. Jetzt sieht alles beschissen aus, aber du hast noch viele Wochen und Jahre vor dir. Komm!« Tom klopfte ihm auf die Schulter. »Wir gehen zum Haus zurück. Nur eine Minute noch.«
Tom wollte die Kante der Klippe sehen. Er tastete sich vor zu den helleren Felsen, spürte Kiesel unter den Schuhen, ein Grasbüschel. Er fühlte auch die Leere dort unten, die jetzt schwarz war und ein Geräusch von sich gab wie ein hohler Raum. Und dort unten, jetzt unsichtbar, lagen die scharf gezackten Felsen, auf die Franks Vater gestürzt war. Tom fuhr herum, als er die nahenden Schritte des Jungen hörte, und trat sofort vom Abgrund weg. Auf einmal hatte er Angst, der Junge könne sich auf ihn stürzen und ihn hinabstoßen. War das verrückt von ihm, fragte sich Tom. Der Junge betete ihn an, das wußte er. Aber auch Liebe war sonderbar.
»Was ist, gehen wir zurück?« fragte Frank.
»Sicher.« Tom spürte kalten Schweiß auf der Stirn. Er war müder, als er glaubte, und hatte durch den Flug jedes Zeitgefühl verloren.
21
Tom fiel ins Bett und schlief sofort ein. Irgendwann später erwachte er durch ein heftiges Zucken im ganzen Körper. Ein böser Traum? Wenn ja, wußte er nichts mehr davon. Wie lange hatte er geschlafen? Eine Stunde?
»Nein!« Jemand hatte das Wort im Flur vor seinem Zimmer eindringlich geflüstert.
Tom sprang aus dem Bett. Draußen ging das Geflüster weiter; eine gurrende Frauenstimme mischte sich mit der des Jungen. Franks Zimmer lag rechts nebenan. Nur wenige Worte der Frau waren zu verstehen: »…so ungeduldig … Ich weiß das doch… Was wirst du tun? Was nur? …ist mir doch ganz gleich!«
Das konnte nur Susie sein, und sie klang wütend. Tom hörte den deutschen Akzent heraus. Und hätte er das Ohr an die Tür gelegt, hätte er mehr verstanden, doch Leute zu belauschen war Tom zuwider. Er kehrte der Tür den Rücken zu, tastete sich zu seinem Bett vor und fand den Nachttisch, auf dem Zigaretten und Streichhölzer lagen. Dann machte er Licht, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich aufs Bett. Schon besser.
Ob Susie bei Frank geklopft hatte? Eher als umgekehrt jedenfalls! Tom lachte, legte sich zurück. Er hörte, wiein der Nähe eine Tür leise geschlossen wurde – vermutlich Franks. Tom stand auf, drückte die Zigarette aus und schlüpfte in die Mokassins, die ihm wie in Berlin als Hausschuhe dienten. Er trat auf den Flur, sah Licht unter der geschlossenen Tür des Jungen und klopfte an, nur mit den Fingerspitzen.
Als er drinnen leise, schnelle Schritte näher kommen hörte, sagte er: »Tom.«
Frank öffnete die Tür, hohläugig vor Erschöpfung, doch er lächelte. »Herein!« flüsterte er.
Tom trat ein. »Das war Susie?«
Frank nickte. »Haben Sie eine Kippe? Meine sind unten.«
Toms Zigaretten steckten in der Pyjamatasche. »Na, was hat sie denn?« Er steckte dem Jungen eine Zigarette an.
»Oje!« Frank stieß Rauch aus, ein Lachen unterdrückend. »Sie sagt nach wie vor, sie hätte mich auf der Klippe gesehen.«
Tom schüttelte den Kopf. »Sie bekommt bald noch einen Herzanfall. Soll ich morgen mit ihr reden? Bin neugierig auf sie.« Er sah sich um, weil Frank zur geschlossenen Tür geblickt hatte. »Wandert sie nachts im Haus herum? Ich dachte, sie wäre krank.«
»Dabei ist sie sicher bärenstark.« Frank schwankte, so müde war er, fiel zurück aufs Bett und streckte dabei für einen Moment die bloßen Füße in die Luft.
Tom sah sich im Zimmer um: ein brauner Tisch, antik, darauf ein Radio, eine Schreibmaschine, Bücher und ein Block Schreibpapier; auf dem Boden vor den halb offenstehenden Schranktüren Skischuhe sowie ein Paar Reitstiefel. Poster von Popsängern hingen an einer großen grünen Pinnwand über dem Tisch (die Ramones, lässig in Jeans), darunter Cartoons und ein paar Fotos, von Teresa vielleicht, doch Tom sah nicht genau hin, weil er das Thema vermeiden wollte. »Zum Teufel mit ihr.« Er meinte Susie. »Natürlich hat sie dich nicht gesehen. Du erwartest doch heute nacht keinen weiteren Besuch von ihr, oder?«
»Alte Hexe«, sagte Frank, die Augen halb geschlossen.
Tom winkte ihm zu, ging hinaus und kehrte auf sein Zimmer zurück. Ein Schlüssel steckte innen im Türschloß, doch er schloß nicht ab.
Nach dem Frühstücksritual am nächsten Morgen fragte er Mrs. Pierson, ob er für Susie im Garten ein paar Blumen schneiden und sie ihr bringen könne. Natürlich, sagte Lily. Wie Tom vermutet hatte, wußte der Junge im Garten besser Bescheid
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