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Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Titel: Der Junge, der Ripley folgte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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sicher, Frank würde sehr gerne mitgehen. Er denkt, die Erde dreht sich nur Ihretwegen, Tom.«
    Diese Wendung hatte Tom seit seiner Jugend in Boston nicht mehr gehört. Er ging hinaus auf den Rasen, zum Plattenweg, denn er wollte die Klippe bei Tageslicht sehen. Der Weg kam ihm irgendwie länger vor, doch auf einmal hatte er die Bäume hinter sich, und vor ihm lag das blaue Wasser, ein wunderschöner Anblick – vielleicht nicht so blau wie der Pazifik, aber doch gerade jetzt ein tiefes, reines Blau. Seemöwen schwebten im Wind, und ein paar kleine Boote, eines davon unter Segeln, glitten langsam über das weite Wasser. Und dann die Klippe, jäh und häßlich. Er trat näher an die Kante, sah hinab auf das Gras und die Steine, dann auf den nackten Fels, und blieb schließlich stehen, die Füße zwei Handbreit vom Abgrund entfernt. Unten lagen weiße und hellbraune Felsbrocken, groß wie Findlinge, wirr durcheinander, genau wie er es sich vorgestellt hatte – als sei vor nicht allzu langer Zeit das Land oder der Felsen weggebrochen. Wo das Meer begann, sah er flache weiße Wellen gegen die kleinen Felsen plätschern. Wie betäubt suchte er nach einer Spur der Katastrophe, etwa einem Stück vom verchromten Rollstuhl John Piersons. Doch da unten war nichts von Menschenhand. Hätte Pierson seinen Stuhl gemächlich über den Rand gerollt, wäre er zehn Meter tiefer auf den scharfzackigen Felsen aufgeschlagen und wahrscheinlich noch ein paar Meter weiter hinabgestürzt. Tom konnte nicht einmal mehr Blutflecken auf den Felsen ausmachen. Er erschauerte, trat vom Abgrund zurück und drehte sich um.
    Durch die Bäume war das Haus kaum zu sehen, nur der dunkelgraue Dachfirst ragte über die Kronen. Und dann erblickte er auf dem Weg den Jungen, immer noch in der blauen Jacke, der auf ihn zukam. Ob er nach ihm suchte? Ohne nachzudenken, wich Tom nach rechts in eine Baumgruppe aus und verbarg sich hinter einem Gebüsch. Würde der Junge sich nach ihm umsehen, seinen Namen rufen, falls Frank dachte, hier könne er sich verborgen halten? Tom war neugierig, das merkte er – vielleicht nur auf den Gesichtsausdruck des Jungen, wenn er sich der Klippe näherte. Jetzt da er so nahe war, konnte Tom sehen, wie sein glattes braunes Haar bei jedem Schritt ein klein wenig wippte.
    Frank musterte die Bäume links und rechts von ihm, doch Tom hatte sich gut versteckt. Außerdem hatte Mrs. Pierson ihrem Sohn wahrscheinlich nicht erzählt, Tom sei zur Klippe gegangen, weil er davon nichts gesagt hatte. Frank rief jedenfalls nicht seinen Namen und sah sich auch nicht noch mal um. Er hatte die Daumen vorn in die Taschen seiner Levis gehakt und näherte sich langsam der Kanteder Klippe, ein wenig großspurig, mit langen, schlenkernden Schritten. Jetzt zeichnete sich der ganze Körper des Jungen gegen das schöne Blau des Himmels ab, kaum mehr als fünf Meter von Tom entfernt. Der Junge blickte hinab, dann aber lange hinaus auf die See, und Tom kam es so vor, als atme er tief durch, um sich zu entspannen. Dann trat er ein paar Schritte zurück, genau wie Tom, und senkte den Blick auf die Sportschuhe an seinen Füßen. Ein Tritt nach hinten mit dem rechten Fuß – ein paar Steine flogen auf. Er nahm die Daumen aus den Hosentaschen, beugte sich vor und lief sofort los.
    »Hey!« schrie Tom und stürzte vorwärts. Irgendwie fiel er hin oder warf sich waagerecht nach vorn – jedenfalls streckte er die Arme aus und bekam einen Knöchel des Jungen zu fassen.
    Frank lag flach auf dem Boden. Er keuchte, sein rechter Arm hing über die Kliffkante.
    »Herrgott!« stieß Tom hervor und zog Frank nervös am Fuß zu sich. Er stand auf, riß ihn an einem Arm in die Höhe.
    Der Junge rang nach Luft, sein glasiger Blick ging ins Leere.
    »Was sollte das werden, zum Teufel noch mal?« Seine Stimme war plötzlich heiser geworden. »Wach auf!« Tom stützte den Jungen, obwohl er selbst unter Schock stand, und zog ihn am Arm zum Wald, zum Weg. In diesem Moment schrie ein Vogel seltsam schrill, als sei auch er entsetzt. Tom richtete sich vollends auf und sagte: »Na gut, Frank: Du hast es beinah geschafft. Das ist das gleiche, oder? Was war das, ein schneller Reflex, wegen meiner Stimme? Du hast dich hingeworfen wie ein Footballspieler!« Oder doch nicht? Hatte er nicht den Jungen daran gehindert, indem er seinen Knöchel packte? Nervös schlug ihm Tom auf den Rücken. »Du hast es jetzt einmal getan, ja? In Ordnung?«
    »Okay«, erwiderte Frank.
    »Du meinst das

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