Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
dem Eingangstor, wohl im Gespräch mit Madame Boutin, die Tom aber nicht sehen konnte. Womöglich sprachen sie über das Verschwinden des Jungen. Tom machte kehrt und ging langsam zurück. Als er sich nach einer Weile umdrehte, kam ihm die Frau auf dem Gehweg entgegen. Tom schlenderte auf das Boutin-Haus zu, sah die Frau im Vorbeigehen aber nicht an. Er warf den Brief in den LETTRES- Schlitz im geschlossenen Eingangstor und kehrte um den Block zu seinem Wagen zurück. Dann fuhr er zur Ortsmitte, zur Brücke über den Loing, wo sich ein Zeitschriftenkiosk befand.
Er hielt an und kaufte einen France-Dimanche. Rote Schlagzeilen, wie gehabt, doch die galten Prinz Charles’ Freundin und im zweiten Aufmacher der katastrophalen Ehe einer griechischen Millionenerbin. Tom fuhr über die Brücke und tankte. Während das Benzin einlief, warf er einen Blick in die Zeitung: Ein Foto des Jungen – von vorne, das Haar links gescheitelt, auf der rechten Wange das kleine Muttermal – ließ ihn zusammenfahren. Die Meldung ging über zwei Spalten, die Überschrift lautete: AMERIKANISCHER MILLIONÄRSSOHN IN FRANKREICH UNTERGETAUCHT , und unter dem Bild stand: »Frank Pierson – wer hat ihn gesehen?«
Dann der Text der Meldung:
Kaum eine Woche nach dem Tod von Multimillionär John J. Pierson, dem amerikanischen Lebensmittelmagnaten, ist sein jüngerer, erst sechzehnjähriger Sohn Frank mit dem Paß seines älteren Bruders John aus dem elterlichen Luxusdomizil im amerikanischen Bundesstaat Maine verschwunden. Der weltgewandte Frank ist für seine Unabhängigkeit bekannt; laut seiner schönen Mutter Lily hat ihn der Tod seines Vaters zudem tief erschüttert. In einem Abschiedsbrief schrieb der Junge, er reise für ein paar Tage nach New Orleans in Louisiana. Aber Familie wie Polizei haben keinerlei Hinweise, daß er je dort angekommen wäre. Nach Auskunft der Behörden hat sich die Suche seither verlagert, nach London und weiter nach Frankreich.
Die sagenhaft reiche Familie ist verzweifelt. Unter Umständen wird der ältere Bruder John mit einem Privatdetektiv nach Europa fliegen, um Frank zu suchen. »Ich kann ihn leichter finden, denn ich kenne ihn«, sagte John Pierson junior.
John Pierson senior, der seit einem Anschlag vor elf Jahren im Rollstuhl saß, starb kürzlich am 22. Juli, als er von einer Klippe seines Anwesens in Maine stürzte. War es ein Unfall oder Selbstmord? Die amerikanischen Behörden betrachten seinen Tod als einen Unfall.
Aber welches Geheimnis verbirgt sich hinter der Flucht des Jungen aus dem Elternhaus?
Tom bezahlte den Tankstellengehilfen und gab ihm ein Trinkgeld. Er sollte Frank sofort davon erzählen, dachte er, ihm den Bericht zeigen. Das würde den Jungen sicher aus der Reserve locken. Dann sollte er die Zeitung wegwerfen, damit nicht Héloïse oder (was wahrscheinlicher war) Madame Annette sie durchblätterte.
Um halb elf rollte Tom durch Belle Ombres Tor in den Schatten der Garage. Die Zeitung unter dem Arm gefaltet, ging er links um das Haus herum, vorbei an Madame Annettes Tür, vor der beiderseits ordentlich aufgereihte Pflanzentöpfe mit blühenden roten Geranien standen – ein Anflug von Besitzerstolz, fand er, denn sie hatte die Blumen für sich gekauft. Am anderen Ende des Gartens sah er den Jungen, über den Rasen gebückt, anscheinend beim Unkrautjäten. Durch die angelehnten Flügeltüren hinter dem Haus hörte er Héloïse brav ihren Bach üben. Er wußte, in einer halben Stunde würde sie entweder eine Platte mit einem Interpreten desselben Stücks auflegen – oder etwas, um in andere Stimmung zu kommen, Rockmusik etwa.
»Billy!« rief Tom leise. Er versuchte sich einzuprägen, daß er ihn nicht Frank nennen durfte.
Der Junge richtete sich auf und lächelte. »Sie haben ihn eingeworfen? Haben Sie Madame gesehen?« fragte er ebenso leise, als könnte sie jemand vom Wald hinter dem Haus hören.
Auch Tom mißtraute dem Wald hinter dem Garten. Nach zehn Metern spärlichen Unterholzes standen die Bäume dort immer dichter. Dort drüben hatte Tom damals unter der Erde gelegen, vielleicht eine Viertelstunde lang. Durch die hüfthohen Brennesseln und die dornigen, wild wuchernden, drei bis vier Meter langen Brombeerranken, die keine Früchte trugen, war nichts zu sehen, erst recht nicht wegen der hohen Linden gleich dahinter, deren Stämme so dick waren, daß sich ein Mann hinter ihnen verbergen konnte. Tom nickte dem Jungen zu, er solle näher kommen, und sie begaben sich in den Schutz
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