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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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dreizehn, sagen Sie?«
    Tante Gloria nickte. »Im Juli wird er vierzehn.«
    Â»Wie alt ist er auf dem hier?«
    Â»Acht«, sagte Tante Gloria.
    Die Kommissarin erklärte, die Polizei brauche etwas Aktuelleres. »Sie können ein Foto von seinem Vater bekommen, wenn Sie ihn kontaktieren«, sagte Tante Glo.
    An Salims Vater konnte ich mich kaum erinnern. Er war ein Inder namens Rashid und arbeitete als Arzt. Tante Gloria und er hatten sich schon vor Jahren scheiden lassen.
    Â»Solltest du Rashid nicht anrufen, Glo?«, sagte Mum. »Wer weiß. Vielleicht ist Salim ja zu ihm gefahren. Es ist doch möglich.«
    Tante Gloria schüttelte den Kopf. »Das würde Salim niemals tun. Außerdem reden Rashid und ich nicht miteinander. Salim fährt jedes zweite Wochenende hin, und das war’s.«
    Kommissarin Pearce begutachtete einen Knöchel an ihrer Hand, als wäre irgendetwas damit nicht in Ordnung, obwohl ich weder Kratzer noch blaue Flecken darauf erkennen konnte. »Und was hat er eigentlich davon gehalten, Ihr Exehemann?«, fragte sie. »Davon, dass Salim und Sie nach New York ziehen?«
    Tante Gloria gab keine Antwort.
    Â»Er muss sich doch irgendwie dazu geäußert haben?«
    Â»Kaum. Ich sagte, er könnte Salim für zwei Wochen über Weihnachten und zwei Wochen im Sommer haben. Das fand er wohl in Ordnung.«
    Wieder herrschte Schweigen.
    Â»Wer weiß?«, fügte Tante Gloria hinzu. »Vielleicht hat er ja doch etwas damit zu tun? Das ist es doch, worauf Sie hinauswollen?«
    Kommissarin Pearce steckte das Foto in ihre Tasche, ohne Tante Glorias Frage zu beantworten. »Das hier und ihre Beschreibung reicht uns fürs Erste.« Sie stand auf. »Hier ist meine Karte mit meiner Durchwahl. Ich lege sie auf das Kaminsims. Falls Salim nach Hause kommt oder sich meldet, oder wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, dann rufen Sie mich an.«
    Tante Gloria zuckte schweigend mit den Schultern, aber Dad antwortete, das würden wir tun. Dann brachte er sie und ihren Kollegen zur Tür, und die beiden gingen. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie sie in einen weiß-blauen Streifenwagen stiegen und davonfuhren. Mum bat Kat, ihr dabei zu helfen, ein paar Sandwiches zu machen. Tante Gloria trank noch einen Kognak. Dad kam wieder rein und öffnete eine Flasche Wein. Sie benahmen sich, als wäre Heiligabend, nur dass es schon spät wurde und trotzdem draußen noch hell war und keiner Witze erzählte oder ausgelassen war.
    Â»Stört’s euch, wenn ich rauche?«, fragte Tante Gloria.
    Keiner antwortete. Sie fasste das Schweigen als Erlaubnis auf, zündete sich eine Zigarette an und saß stumm und rauchend da, sogar noch, nachdem Kat ihr einen Teller mit Käse-und-Salat-Sandwiches auf den Schoß stellte. Tante Gloria starrte ins Leere, inhalierte und blies den Rauch wieder aus. Abgesehen von ihrer Hand, die durchschnittlich alle zwölf Sekunden den Zigarettenhalter zum Mund führte, rührte sie sich nicht. Es herrschte eine seltsame Stille, und mir fiel auf, dass Tante Gloria seit ihrer Ankunft in unserm Haus fast ununterbrochen geredet hatte und herumgerannt war.
    Â»Tja«, sagte Mum, nachdem jeder von seinen Sandwiches so viele gegessen hatte, wie er schaffen konnte. (Ich: zwei. Dad: zwei. Mum: eins. Kat: ein halbes. Tante Gloria: keins.)
    Â»Tja«, sagte Dad.
    Â»Wie war’s heut auf der Arbeit, Ben?«, fragte Mum. Das fragte sie ihn jeden Tag.
    Â»Auf der Arbeit?«, sagte Dad. Er zuckte mit den Schultern. »Okay. Die Kaserne ist jetzt komplett geräumt und verriegelt. Die Betonbrecher rücken ihr am Donnerstag zu Leibe. Und ich hab jetzt einen neuen Job, Richtung Peckham.«
    Â»Richtung Peckham?«, sagte Mum. Sie wirkte nicht sehr interessiert. Ihre Augen starrten ins Leere.
    Â»Peckham Rye.«
    Wieder folgte eine lange Stille. Kat wickelte die ganze Zeit eine Haarsträhne um ihren kleinen Finger und wickelte sie dann wieder ab. Ich wollte sie fragen, was sie damit vorhatte, aber sie bemerkte, wie ich sie ansah, und verzog das Gesicht, also sagte ich stattdessen: »Die Sache mit Salim …«
    Alle zuckten zusammen.
    Â»Ich habe da ein paar interessante Theorien, die vielleicht …«
    Â»Sei still, Schatz«, sagte Mum. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für deine Theorien …«
    Ein tiefes Schweigen legte sich über das Wohnzimmer. Ich hörte das

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