Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
Vom Netzwerk:
Surren der Zentralheizung. Einer der Wasserhähne in der Küche tropfte. Dad klimperte mit etwas Kleingeld in seiner Hosentasche. Ich überlegte, welches Wetterphänomen dieser Stille wohl entsprach. Bestimmt nicht die Ruhe nach dem Sturm. Vielleicht die Ruhe im Zentrum eines Sturms, wie das Auge eines Hurrikans. Ich stellte mir einen düsteren, rasanten Wirbelwind vor und in seiner Mitte eine leicht ovale Zone der Stille, geformt wie das Rad eines Fahrrads, wenn man es von einem schrägen Blickwinkel aus betrachtet, das Londoner Riesenrad. Mum scharrte mit den Füßen. Die Zentralheizung hörte auf zu surren. Mum sagte, es sei Zeit, ins Bett zu gehen.
    Â»Es ist doch erst neun«, protestierte Kat. »Außerdem schlaf ich sowieso hier auf der Couch, hast du’s vergessen?«
    Â»Es reicht, Kat.« Mum stand auf, ging hinüber zum Fenster und blickte hinaus. Dann zog sie die Vorhänge vor. »Diesmal darfst du ausnahmsweise in Teds Zimmer schlafen, auf der Luftmatratze, auf der …«
    Sie vollendete den Satz nicht, aber in Gedanken tat es jeder für sich. Auf der Salim letzte Nacht geschlafen hat. Tante Gloria stöhnte laut auf und beugte sich über ihren Drink, als ob ihr schlecht wäre. Und alle dachten dasselbe: Wo in dieser riesigen, dunklen, gefährlichen Großstadt wird Salim heute übernachten?

14
    Acht Theorien
    In dieser Nacht lag ich auf meinem Bett und versuchte das Geraschel zu ignorieren, das aus weniger als einem Meter Entfernung zu mir herübertönte. Ich roch Haarshampoo und hörte Atemgeräusche, die an das Hecheln eines nervösen Panthers erinnerten. Es war Kat, auf jener Luftmatratze, auf der Salim die Nacht zuvor verbracht hatte. Durch das offene Fenster drang der Lärm der Stadt herein. Laster donnerten die Hauptstraße hinunter. Flugzeuge dröhnten über unseren Köpfen. Ich stellte mir eine große ambossförmige Wolke vor, die sich über dem Südosten Londons bildete, und heiße Luft, die als Konvektionsströme aufstiegen. In den äußeren Schichten der Atmosphäre kippte die Wetterlage.
    Ich liege oft nachts wach und mein Kopf ist randvoll mit seltsamen Fakten über die Welt. Dann schalte ich meine Leselampe ein und höre mir den Seewetterbericht im Radio an, ganz leise. Ich hole meine Wetterbücher hervor und studiere die Karten mit den Isobaren und den Isothermen. Ich schaue mir die Fotos mit den Wetterfolgen an: ausgetrocknete Seen,Elendsviertel mit zerstörten Hütten, Schlammlawinen, Menschen, die in Booten um die Dächer ihrer Häuser rudern. Dann stelle ich mir vor, dass ich später als Erwachsener den Menschen helfen werde, sich auf solche Katastrophen vorzubereiten und sich selbst und ihr Geld zu retten. Und dass ich Regierungen beraten werde, wie man mit dem Wetter umgehen soll.
    Aber in dieser Nacht konnte ich das Licht ja nicht anknipsen, wegen Kat. Ich glaube, die Moleküle in meinem Gehirn gerieten komplett durcheinander, denn ich hatte die ganze Zeit das Bild vor Augen, wie eine Horde Dodos Lord Lucan hinterherjagte, der auf der Mary Celeste in einen Abendhimmel hineinsegelte, mit einem gigantischen Fahrradrad als Mond. An Deck stand Salim und winkte, genau so, wie er kurz vor dem Einsteigen in seine Gondel ein letztes Mal gewinkt hatte. Ich hörte Tante Glorias Stimme sagen, dass es ja mein Vorschlag gewesen sei, zum Riesenrad zu gehen, obwohl es gar nicht stimmte. Und ich sah Mums Hand, die mich verscheuchte wie eine Fliege.
    Â»Ted.« Kat war wach. »Ted.«
    Â»Hmpf. Was ist?«
    Â»Bist du wach?«
    Â»Ja.«
    Â»Ich auch.« Sie setzte sich auf und ich sah, wie sich ihr Arm nach der Nachttischlampe streckte. Sie drückte den Schalter und wir schauten uns blinzelnd an. »Es hat keinen Sinn. Wir müssen über die Sache reden.« Sie umschlang ihre angezogenen Beine mit den Armen und ließ den Kopf auf die Knie sinken. Ihre braunen Haarsträhnen fielen ihr wirr über die Schultern.
    Â»Hmpf«, sagte ich.
    Â»Selber hmpf«, erwiderte sie.
    Ich brauchte einen Moment, um zu merken, dass sie mich nachmachte.
    Sie lächelte. »Wenn ich dieselben Geräusche mache wie du, kann ich vielleicht ja auch so denken wie du, Ted.«
    Â»Ich glaube nicht, dass mein Denken irgendwie besser ist als dein Denken«, sagte ich.
    Wir lauschten auf das Ticken meines Weckers.
    Â»Ted, was meinst du, was das Merkwürdigste an Salims

Weitere Kostenlose Bücher