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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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umhergeirrt.
    Â»Das muss er sein«, sagte Tante Gloria. »Warum haben sie ihn nicht gleich hergebracht?«
    Â»Das konnten sie nicht«, sagte Dad. »Weil, also, dieser Junge … Wer auch immer das ist, es könnte ja jeder sein, irgendjemand … Dieser Junge … dieser Junge ist …«
    Ich wartete darauf, dass er sagte, der Junge hätte sein Gedächtnis verloren oder dass er wegen des Schlags auf seinen Kopf ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, deswegenwar es im Moment noch zu gefährlich, ihn zu transportieren. Mit dem, was als Nächstes kam, hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
    Â»Er liegt im Leichenschauhaus.«
    Darüber, was danach geschah, will ich nicht viel sagen. Tante Gloria übergab sich auf den Teppich. Mum sprang aus dem Bett. Sie schluchzte, umarmte Tante Gloria und sagte, dass es unmöglich Salim sein konnte, während Dad damit begann, sich Straßenkleidung über seinen Schlafanzug zu ziehen, und Kat stand da und hielt mich fest. Ich drehte mich zur Tür und fing an auf sie einzuhämmern. Dad legte mir eine Hand auf den Arm und als Nächstes weiß ich noch, dass die Polizei da war und ihn mitnahm, damit er sich diesen asiatischen Jungen im Leichenschauhaus ansah, der vielleicht Salim war und vielleicht auch nicht. Tante Gloria ging es zu schlecht, um mitzufahren. Sie legte sich aufs Sofa, in eine Decke gehüllt, und sagte die ganze Zeit: »Salim, Salim, sei bitte nicht derjenige, der auf diesem kalten Metalltisch liegt, Salim, Salim …« Ihr Zähne klackerten und Mum setzte sich auf die Armlehne des Sofas und strich Gloria übers Haar.
    Dann tat Kat etwas Mutiges. Sie machte eine Kanne Tee, obwohl ihr die Hände zitterten. So ist Kat. Grässlich bei kleinen Problemchen, zum Beispiel wenn sie einen Bus verpasst oder ihr zehn Pence für eine CD fehlen, die sie haben will. Aber bei großen Problemen ist sie gut, zum Beispiel als Mum letztes Jahr ihre große Operation hatte. Kat kochte uns Tiefkühlgerichte und fragte Dad, während wir aßen, wie sein Arbeitstaggelaufen war. Und als Mum dann nach Hause kam, rannte sie mit vielen Tassen Tee, Blumen und Zeitschriften die Treppen rauf und runter, und Mum sagte, sie hätte keine Ahnung, wie sie ohne Kat zurechtgekommen wäre.
    Die anderen tranken den Tee im Wohnzimmer und warteten auf Dads Rückkehr, und Mum musste Tante Gloria zum Trinken die Tasse an die Lippen halten wie bei einem Baby. Ich nahm meinen Tee mit rauf in mein Zimmer. Auf dem Schreibtisch lag immer noch die Liste mit den Theorien und das Erinnerungsfoto, das Kat am Riesenrad gekauft hatte. Ich starrte alles an, ohne es zu sehen. Dover Wight Portland, dachte ich. Nordwest 6 bis Stärke 8, später Wirbelstürme …
    Vierundfünfzig Minuten vergingen von dem Moment, als Dad mit der Polizei das Haus verließ, bis er zurückkam. Macht 3240 Sekunden. Ich hab irgendwo gelesen, dass das Gehirn mit dem Älterwerden immer schneller wird. Dann kommt es einem so vor, als würde die Zeit rascher vergehen. Also dauerten die 3240 Sekunden für mich wohl am längsten. Aber Kat meinte später, dass sie Tante Gloria noch viel länger vorgekommen sein müssen als mir. Sie sagte, je schlimmer die Qualen sind, die man empfindet, desto langsamer vergeht die Zeit. Und Tante Gloria muss mehr Qualen ausgestanden haben als jeder andere, weil es ja ihr Sohn war, der dort auf dem kalten Metalltisch lag oder nicht lag.
    Ein asiatischer Junge.
    Salim oder nicht Salim.
    Etwas Schreckliches passierte während dieser vierundfünfzig Minuten. Keine noch so vielen erfundenen Seewetterberichte konnten mich davon abhalten, darüber nachzudenken. Über den Tod. Ich stellte fest, dass er etwas Reales ist. Ich würde eines Tages sterben. Kat würde sterben. Mum würde sterben. Dad würde sterben. Tante Gloria würde sterben. Mr Shepherd in der Schule würde sterben. Alles, was auf diesem Planeten lebte, würde sterben. Die Frage war nicht, ob, sondern nur, wann. Natürlich hatte ich schon vorher vom Tod gewusst. Aber in diesen vierundfünfzig Minuten begriff ich es richtig. Erst da wurde mir klar, dass es zwei Arten des Wissens gibt: oberflächliches und tiefes. Man kann etwas theoretisch wissen, aber es praktisch nicht begreifen. Man kann etwas teilweise wissen, ohne das Ganze zu kennen. Wissen kann wie die Wasseroberfläche eines Teiches sein, oder

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