Der Junge, der sich in Luft auflöste
es kann tief hinabreichen bis auf den schlammigen Grund. Es kann die winzige Spitze eines Eisbergs sein oder die ganzen hundert Prozent.
Ich dachte an die lange Kette aller Tage meines Lebens und fragte mich, wie weit ich in dieser Kette schon gekommen war. War ich gerade erst am Anfang oder schon in der Mitte oder näherte ich mich dem Ende? Falls es Salim war, der dort auf dem kalten Metalltisch lag: Hatte er beim Aufstehen an diesem Morgen wohl gewusst, dass das letzte Glied der Kette erreicht war?
Ich dachte über Gott und unsterbliche Seelen nach und über die Ewigkeit. Mir fiel wieder ein, wie Pater Russell mir vor vielen Jahren in unserer Kirche beigebracht hatte, dass Gott michgemacht hätte, und wie ich ihn fragte: »Wenn Gott mich gemacht hat, wer hat dann Gott gemacht?« Pater Russell hatte gelächelt und meinte, ich sei der geborene Theologe, aber meine Frage beantwortete er nicht. »Hat ein anderer Gott ihn gemacht?«, fragte ich. Und vor meinem geistigen Auge erschien eine lange Reihe von Göttern, von denen jeder den vorigen erschaffen hatte und immer so weiter bis in die Unendlichkeit. Pater Russell setzte sich neben mich und sagte: »Es gibt nur einen Gott, Ted. Einen einzigen Gott, der immer schon da gewesen ist. Er ist jenseits aller Zeit. Er ist jenseits unseres Verstandes. Er ist immer bei uns.«
Ãber diesen Gott jenseits unseres Verstandes dachte ich nun nach. Ich schloss die Augen und versuchte ihn mir vorzustellen. Aber wie sehr ich auch nachdachte, alles, was ich erkennen konnte, waren Wirrwarrwolken in einem riesigen und stillen Universum, und wenn ich mein Trampolin noch gehabt hätte, wäre ich in diesem Moment besonders doll und hoch gesprungen.
Nach den 3240 Sekunden kam Dad durch die Haustür wieder herein. Ich ging als ein anderer Ted die Treppe hinunter als der Ted, der die Treppe hinaufgegangen war. Ich hatte dem Tod ins Gesicht gesehen. Als ich Dad sah, wusste ich, dass er dasselbe getan hatte. Sein Blick verlor sich in derselben groÃen Leere.
Mum, Tante Gloria und Kat stürzten sich auf ihn. »Nein«, sagte er immer wieder und zog sie alle drei in seine Arme. »Keine Sorge. Es war nicht Salim. Es war ein anderer. Irgendeinanderer Junge.« Dann blickte er über ihre Köpfe hinweg zu mir herüber und ich erwiderte seinen Blick und wusste, dass wir beide dasselbe dachten. Dieser Andere, der Junge, der nicht Salim war, der junge Asiat, der dort auf dem Metalltisch lag. Wenn es nicht Salim war, wer war es dann?
Schreie waren zu hören, Tränen, Lachen, unzählige Male »Gott sei Dank!« und »Ich wusste doch, dass erâs nicht war!«, »Ich habâs euch doch gesagt!«. Ich schwieg. Dad stand reglos in all diesem Durcheinander und schüttelte den Kopf.
Dann sagte er ganz leise: »Es war ein Junge. Einer von der StraÃe, vielleicht etwas jünger als Salim, aber kleiner, braun und hager, mit der Andeutung eines Schnurrbarts, genau wie der von Salim bei eurer Ankunft â¦Â«
»Aber dann hat er ihn abrasiert!«, sagte Kat.
»Und er trug die gleiche schwarze Jeans. In seinem Gesicht lag so etwas wie der Verlust von Unschuld. Ein Junge, der von Anfang an kaum etwas hatte, würde ich schätzen. Mit Dreck unter den Fingernägeln und blauen Flecken am Arm â¦Â«
Dad schüttelte sich, als würde er aus einem Albtraum erwachen.
»Wie ist er gestorben?«, fragte Kat.
Dad antwortete nicht. »Ich brauch einen Drink, Faith«, sagte er. »Einen Scotch.«
Kat packte mich am Arm. »Komm, Ted«, flüsterte sie. Ich hörte, wie Tante Gloria wieder zu weinen begann, leise diesmal. Kat ging zurück nach oben und ich folgte ihr. Ohne etwas zu sagen, rollte sie sich auf der Luftmatratze zusammen und ichlegte mich ins Bett. Der Junge auf dem Metalltisch, ein Junge von der StraÃe. Ich knipste das Licht aus und lauschte auf Kats Atem, der mir zeigte, dass sie lebte. Dreck unter seinen Fingernägeln, Salim oder nicht Salim.
Die Worte kreisten mir im Kopf wie ein Furcht einflöÃender Vers, und ihr Echo setzte sich unendlich fort. Es dauerte lange, bis ich einschlief.
16
Wolkendecke
Am nächsten Tag wachte ich früh auf. Ich schaute aus dem Fenster und stellte fest, dass eine dichte Wolkendecke über London hing. Die Luftfeuchtigkeit war über Nacht gestiegen. Wenn ich an diesem Morgen der Wettermann gewesen wäre, hätte ich gesagt, dass ein
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