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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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die nach ihm sucht.
    Tante Glorias Gejammer. Mums Wut.
    Kats Tränen. Meine Lügen.
    Der fremde Mann … Sein Gesicht und seine Augen, als er uns entdeckte … Die Motorradfahrerin, die als Erste sprang … Schwindelanfälle und Platzangst … Mein Gehirn heulte auf wie die Motorräder.
    Ich öffnete die Augen.
    Kat stieg wieder ab und gab den Helm zurück. Sie kam zu mir herüber, lächelnd und mit weit aufgerissenen Augen.
    Â»Ted, das war großartig. Du solltest es probieren.«
    Ich schüttelte den Kopf und zitierte das eingeritzte Wort, das ich in der U-Bahn gesehen hatte: »Niemals!«
    Â»Ich hab auf diesem Roller gesessen und bin um die Kegel herumgefahren, Ted. Und weißt du was?«
    Â»Was?«
    Â»Wenn ich auf so einem Roller sitze, kann ich nachdenken.«
    Â»Nachdenken?«
    Â»Ja. Ich saß drauf und hörte den ganzen Lärm nicht. Die Stimmen wurden immer leiser. Ich war allein. Ganz für mich allein. Meine Gedanken waren das Einzige, was ich hören konnte. Meine Gedanken über Salim. Und in dem Moment hab ich’s begriffen, Ted.«
    Â»Was begriffen?«
    Â»Dass er gelogen hat. Dieser Mann, Christy. Er hat gelogen.«
    Ich nickte. Ich war durch einen Prozess schlussfolgernden Denkens zu demselben Ergebnis gekommen. Unsere Gedanken hatten sich getroffen, was eine andere Art ist auszudrücken, dass wir beide im selben Moment dasselbe dachten, was bei mir und Kat nur selten vorkommt. »Ja, Kat. Er hat gelogen.«
    Vielleicht lag es daran, dass ich an diesem Tag selbst zum Lügner geworden war. Es heißt ja, man erkennt nur, was man kennt. Mir war schon, kurz nachdem er weggegangen war, klar gewesen, dass er gelogen hatte. Es lag nicht so sehr daran, waser sagte, sondern mehr an der Art, wie er versucht hatte, uns von dem abzulenken, was wir wissen wollten. Er war eine Mini-Coriolis-Kraft, die versuchte, uns vom Kurs abzubringen. Und noch etwas anderes war mir aufgefallen. Ein Widerspruch. Am Riesenrad hatte er uns erzählt, dass er nicht fahren wollte, weil er Angst vor engen Räumen hatte: Platzangst. Und eben hatte er gesagt, dass er unter Höhenangst litt: unter Schwindelanfällen.
    Â»Wir müssen ihn wiederfinden«, sagte Kat, »und ihn dazu bringen, dass er uns die Wahrheit sagt.«
    Â»Ja, Kat. Die Wahrheit.«
    Â»Wir sind ein Team, du und ich. Los, komm, Ted.«

29
    Verfolgung
    Aber wir fanden ihn nicht.
    Die Ausstellungshalle war brechend voll. Meine Hand schlackerte so heftig, dass Kat mich aufforderte, sie unter meine Jacke zuschieben. Inzwischen verwandelte sie sich wieder in die fiese, bekloppte Madame Katastrophe zurück, und unsere Gedanken funktionierten extrem gegensätzlich. Wir landeten wieder am Eingang. Dort hatten einige Ordner gerade Dienst, aber Christy war nicht dabei. Kat ging auf eine Ordnerin zu, die gerade mitten in einer Gepäckkontrolle war.
    Â»Entschuldigen Sie, Miss.«
    Die Frau fuhr herum, ihre Mundwinkel hingen nach unten. »Was ist?«, fauchte sie.
    Â»Wissen Sie, wo Christy ist?«
    Â»Christy? Was geht dich das an?«
    Â»Er ist ein Freund von uns. Ich habe eine Nachricht für ihn.«
    Â»Eine Nachricht?«
    Â»Eine wichtige Nachricht.«
    Â»Worum geht’s?«
    Â»Das ist privat.«
    Â»Privat?« Die Frau gab die Handtasche, die sie kontrolliert hatte, der Besitzerin zurück. »Er hat sich gerade über Funk gemeldet und meinte, er hätte einen Magen-Darm-Virus. Für heute macht er Schluss. Das heißt, dass ich und meine zwei Kollegen hier allein sind, kapiert? Und dass wir keine Zeit haben, hier dumm rumzustehen und mit seinen Freunden zu quatschen. Kapiert?«
    Â»Kapiert«, sagte Kat.
    Â»Immer dasselbe mit ihm. Mal krank, mal Zahnarzt, mal toter Onkel. Viel Wind um nichts … ha, ha. Deswegen heißt er wohl auch so.« Ihre Lippen zogen sich wieder nach unten. Sie schüttelte den Kopf. »Falls ihr ihn auf dem Weg zur U-Bahn einholt, könnt ihr ihm von mir was bestellen. Seine Krankheiten machen mich krank. Er braucht morgen gar nicht erst wiederaufzutauchen. Denn ich werde ihn feuern.«
    Â»Feuern?«, fragte ich und dachte an die Menschen, die in alten Zeiten auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren.
    Â»Ja, er ist gefeuert, vor die Tür gesetzt, abgesägt, sucht euch was aus!«
    Ich starrte sie an. Kat tat dasselbe.
    Dann packte sie mich am Ärmel. »Beeilung, Ted!«

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