Der Junge, der sich in Luft auflöste
das Kat gekauft hatte, noch einmal angesehen. Und was mir immer wieder ins Auge fiel, war der rosarote Ãrmel â von dem wir angenommen hatten, dass es das Mädchen in der rosaroten Flauschjacke war, das im Hintergrund stand und in die Kamera winkte. Ich weià nicht, wann es mir zum ersten Mal klarwurde. Vielleicht waren es die achtzehn Bilder, die Kat von unserer Wäscheleine schoss, um Salims Film voll zu machen, die Bilder mit den Ãrmeln der Sweatshirts, den Pullovern und Blusen, die im Wind flatterten. Oder vielleicht war es die umständliche Art gewesen, wie Kat sich an jenem Morgen, an dem sie schnell abgehauen war, um die Fotos vergröÃern zu lassen, in ihre Fellkragenjacke gezwängt hatte. Der Ãrmel auf dem Erinnerungsfoto gehörte zu keiner Person, die winkte. Es war jemand, der sich umzog.
Ein rosaroter Ãrmel. Winken oder ertrinken. Winken oder sich umziehen. Je nachdem, wie man es betrachtet.
Das Mädchen in der rosaroten Flauschjacke war Salims Komplizin. Sie hatten sich in der Gondel in den jeweils anderen verwandelt. Eine Perücke, eine Jacke, Sonnenbrille. Mehr brauchte es nicht.
Und mir fiel wieder ein, wie Tante Gloria erzählt hatte, dass Salim praktisch dauernd Witze machte. Nicht etwa theoretisch, so wie ich, was bedeutete, dass er seine Witze wirklich in die Tat umsetzte.
Eine kurze Zeit lang fragte ich mich, ob Salim wohl eine Freundin hatte. Eine Freundin, die niemand erwähnt hatte.Vielleicht eine, von der noch nicht einmal Tante Gloria etwas wusste. Ein Faktor X in meiner Gleichung. Die Coriolis-Kraft. Das, was Salim von seinem Kurs hatte abweichen lassen. Doch dann, irgendwann während der fünfundfünfzig Stunden und zwei Minuten des Nachdenkens, kam ich auf eine andere Möglichkeit.
Marcus. Der »Paki-Kanake«. Der »Macker«. Der Junge, der im Sturm mitgespielt hatte.
Salim hatte erzählt, ein »Kumpel« aus Manchester hätte ihn angerufen, als wir auf dem Weg zum Riesenrad die FuÃgängerbrücke überquerten. Später hatten wir von der Polizei erfahren, dass alle in Manchester vernommenen Personen, einschlieÃlich Marcus, angegeben hätten, von Salim seit seiner Abreise nichts mehr gehört zu haben. Ein Widerspruch. Irgendjemand hatte gelogen.
Marcus vielleicht.
Die Polizei hatte die Alibis von Salims Freunden am Tag seines Verschwindens überprüft und uns davon berichtet. Marcusâ Mutter hatte ausgesagt, er hätte einen Ausflug mit den Pfadfindern gemacht, deswegen war ich auf die Idee gekommen, dass er vielleicht auf dieselbe Art mit den Pfadfindern unterwegs gewesen war wie Kat und ich im Schwimmbad. Oder wie Kat, die an diesem Tag eigentlich in der Schule hätte sein müssen, in Wirklichkeit aber in die Stadt fuhr, zur Haarberatung bei Hair Flair . Ich wusste nicht viel über Marcus, nur von der Freundschaft der beiden. Dass er und Salim Halbasiaten waren und auf eine Jungenschule gingen. Und dass sie als »Macker« galten, was ein anderer Ausdruck für lässige und coole Typen ist. In ihrer Schule waren sie zusammen im Theaterstück Der Sturm aufgetreten. Salim hatte Prinz Ferdinand gespielt, aber irgendjemand musste die einzige weibliche Rolle übernommen haben â Miranda, von der Kat behauptet hatte, sie sei eine dumme Schlampe. Vielleicht Marcus. Vielleicht waren sie so auf die Idee gekommen.
Marcus. Sehr wahrscheinlich.
Als die junge Frau bei der Freestyle-Show vom Motorrad gestiegen war, hatte jeder sie für einen Mann gehalten, bis sie den Helm abnahm und ihr langes Haar löste. Vielleicht hatten Kat und ich ja genau das Gegenteil getan: angenommen, dass die Person in der rosaroten Flauschjacke eine Frau sein musste, nur weil sie lange Haare trug. Männlich oder weiblich, je nachdem, wie man es betrachtet.
Marcus. Ich war mir fast sicher.
Unter den einundzwanzig Personen, die aus der Gondel ausgestiegen waren, war keine zusätzliche Frau gewesen, die sich zuvor unter einer Perücke und hinter Sonnengläsern versteckt haben konnte. Aber ein Junge war dabei gewesen. Der Junge, den wir für den Freund des Mädchens mit der rosaroten Flauschjacke hielten. Ein Junge mit braunen Pausbacken.
Marcus. Ganz bestimmt.
Dann erinnerte ich mich, wie Salim sich den Oberlippenbart abrasiert hatte. Wenn er zu dem Mädchen in der rosaroten Flauschjacke werden sollte, musste er glatt rasiert sein. Genau wie Marcus. Alles deutete auf Marcus. Dann
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