Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
Fride und bleibt liegen, ohne etwas zu sagen. Der Morgen ist so still und es tut so gut, einfach nur dazuliegen. Nanna spürt den Wind auf der Nasenspitze und hört die Wellen des Fjords. Fride blinzelt kurz, öffnet die Augen und macht sie wieder zu.
»Au«, sagt sie leise. »Au.«
»Was ist denn?«
»Mir tut alles weh.«
»Mir auch. Aber wir müssen bald weiter«, sagt Nanna und streckt sich.
Sie bleiben noch ein bisschen liegen, dann setzt Nanna sich im Schlafsack auf und lauscht. Sie versucht, auf die andere Seite des Fjords zu spähen. Dort verschwindet die Straße zwischen den Hügeln. Es sind keine Gebäude zu sehen. Sie bereut, dass sie keine Ersatzbatterien mitgenommen oder dasEinkaufszentrum noch weiter nach Essen durchsucht haben, weil sie sich nicht getraut hat, noch länger zu bleiben. Aber die Lebensmittel wären vielleicht verdorben gewesen. Jetzt ist es sowieso zu spät.
Nanna sieht Papas blasses Gesicht vor sich, wie es vor Schweiß glänzte. Und seine traurigen Augen. Seine unendlich traurigen Augen. Als glaubte er, sie würden sich nie wieder sehen.
Die Fahrbahn der Brücke hängt an den langen Stahlseilen, die am Pfeiler befestigt sind, ins Meer. Nur am Rand scheint ein schmaler Streifen, der am Geländer hängt, noch bis auf die gegenüberliegende Seite hinüberzuführen. Sie müssen es versuchen. Umkehren können sie immer noch, falls es aussichtslos sein sollte.
»Komm jetzt, Fride. Wir müssen los.«
»Ich kann nicht mehr laufen.«
»Du musst auch nicht laufen. Wir haben doch den Anhänger. Weißt du nicht mehr? Komm her und wasch dich ein bisschen. Das Wasser ist herrlich.«
»Ach ja«, sagt Fride und krabbelt aus dem Schlafsack. »Oh, ich bin so froh, dass wir ihn gefunden haben.«
Sie geht zum Bach und wäscht sich. Nanna räumt auf und stellt die restliche Ananas und Leberwurst von gestern Abend bereit.
»Mehr haben wir nicht?«, fragt Fride enttäuscht.
»Nein. Wir müssen sparen. Aber erst mal reicht es noch. Hoffentlich finden wir in der Stadt Nachschub.«
»Wie kommen wir denn auf die andere Seite?«, fragt Fride mit vollem Mund.
»Es ist nicht alles eingestürzt. Siehst du?«, sagt Nanna undzeigt zur Brücke. »Wir versuchen, auf dem Teil der Brücke rüberzukommen, die noch steht. Ich glaube, das wird gehen.«
Sie essen schweigend weiter. Zusammen mit dem metallischen Geschmack der Leberwurst ist die süße Ananas fast ungenießbar.
Nanna packt die Schlafsäcke ein und wirft sie zusammen mit dem Rucksack in den Anhänger. Fride klettert obendrauf, lehnt sich zurück und kuschelt sich zwischen die Schlafsäcke.
»Das wird schön, hier zu liegen«, sagt sie.
»Das kannst du laut sagen«, sagt Nanna und steigt auf.
Sie rollen ruhig zurück auf die Schnellstraße, aber dort angekommen ist das Gefühl von Sicherheit verschwunden. Wenn jemand auftauchen könnte, dann hier. Nanna schaut nach hinten. Es ist unmöglich, weiter zurückzusehen als bis zur Bergkuppe. Aber sie will sich darüber jetzt keine Gedanken machen. Sie nähern sich der Brücke, die Pfeiler mit den Stahlseilen ragen hoch über ihnen in den Himmel. Als sie dort ankommen, sieht Nanna, wie tief es nach unten geht. Sie kommt sich so klein vor, mitten auf dem breiten Asphalt. Es ist genau wie im Tunnel, es gibt keine Möglichkeit zu flüchten.
Fride hat angefangen zu singen. Nanna fühlt sich merkwürdig, mit Frides sanftem Lied und der Angst, die sie selbst verspürt.
»Sei ein bisschen leise«, sagt sie.
Fride hört auf zu singen und senkt den Kopf. Der Wind erfasst sie und Nanna atmet den frischen Geruch des Meeres ein. Sie schaut über den Fjord.
Die Brücke schwankt leicht im Wind und der Straßenbelag ist rissig. Die eine Seite der Fahrbahn ist verdreht und führt schräg nach unten. Nanna bleibt ganz dicht am Geländer. Tiefunter ihnen haben die Wellen weiße Schaumkronen. Sie spürt den Sog der Kante. Schau auf die Brücke, denkt sie. Nicht nach unten. Sie lenkt das Rad auf den schmalen Metallsteg und fährt noch ein kleines Stück weiter. Bei der kleinsten Bewegung wackelt alles. Nanna hält an. Weiter traut sie sich nicht. Hier ist Schluss. Asphalt und Beton hängen an langen, rostigen Eisenstangen nach unten und auch der Fußweg verbiegt sich.
»Nanna?«, sagt Fride.
»Wir müssen umkehren«, sagt Nanna. »Wir müssen versuchen, einen anderen Weg zu finden.«
Fride steht im Anhänger auf.
»Ich will nach Hause«, sagt sie.
»Setz dich hin. Sei vorsichtig.«
Langsam schiebt Nanna das
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