Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
Fahrrad rückwärts. Ihre Beine zittern und sie spürt bei jedem Schritt, wie die Brücke unter ihren Füßen schwankt. Weiter vorne knirscht und quietscht das Metall.
Dann sind sie wieder auf der Straße und in Sicherheit. Nanna merkt, wie groß ihre Angst gewesen ist. Sie stützt sich auf den Lenker und schaut zum Ufer. An einem großen Anleger steht eine kleine Ansammlung von Häusern und im Wasser kann Nanna unter einer grünen Abdeckplane undeutlich ein Ruderboot erahnen.
»Fride. Gib mir das Fernglas, schnell.«
Fride lehnt sich aus dem Anhänger und reicht Nanna das Fernglas. Ihr Blick wandert über die Landschaft, zurück zu den Häusern und plötzlich schaut sie direkt in das Gesicht eines Mannes. Sie erschrickt, aber sie zwingt sich, nicht wegzuschauen. Auch der Mann hat ein Fernglas vor dem Gesicht. Außer dass er lange Haare und einen Bart hat und eine schmutzige, graue Jacke trägt, kann sie nicht viel erkennen.
Jetzt ist es passiert. Sie sind nicht mehr alleine.
»Da unten ist jemand. Ein Mann. Er hat uns gesehen.«
Der Mann geht in sein Haus und bleibt weg.
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Er hat auch ein Fernglas.«
»Wie sieht er aus?«
»Er hat lange Haare und einen Bart.«
»Was machen wir jetzt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sah er nett aus?«
»Ich weiß es nicht. Aber wir müssen mit ihm reden.«
»Ich will nicht.«
»Ich auch nicht. Aber es geht nicht anders. Sonst kommen wir nicht über den Fjord. Da unten gibt es Boote.«
Nanna hebt das Fernglas und schaut wieder zu den Häusern. Die Tür des roten Hauses steht einen Spaltbreit offen.
»Ich will nicht da runter«, sagt Fride.
»Wir müssen«, sagt Nanna und schaut Fride an. »Wir müssen es ganz einfach tun. Vielleicht kann er uns helfen.«
Der Weg zu den Häusern führt unter der Brücke durch. Nanna versucht, so langsam zu fahren, wie es auf dem steilen Weg eben geht, aber mit dem Anhänger kann sie nur vorsichtig bremsen. Ein Schatten bewegt sich hinter dem Fenster im oberen Stock des roten Hauses. Nanna bremst so stark, wie sie sich gerade noch traut, und behält das Fenster im Blick. Sie sieht, wie jemand rasch durch das Zimmer geht, bevor die Haustür ein bisschen weiter aufgeht. Nanna bleibt ein kleines Stück vor der Treppe stehen.
Die tiefe Stimme hinter der Tür ist undeutlich und gedämpft, als würde jemand durch ein Kissen sprechen.
»Seid ihr alleine?«
Nanna traut sich nicht zu antworten.
»Seid ihr alleine?«, fragt die Stimme wieder.
»Ja«, sagt Nanna vorsichtig.
»Ist das die Wahrheit?«
»Hier sind nur wir beide. Meine kleine Schwester sitzt im Anhänger«, sagt Nanna und schaut hinter sich. Fride liegt immer noch im Wagen. Sie schaut Nanna an, als würde sie auf etwas warten.
Die Tür gleitet auf und eine Gestalt taucht auf. Das Gesicht ist hinter einer grünen Gasmaske versteckt. Nanna erkennt den langen Bart und die graue Jacke, die sie durch das Fernglas gesehen hat.
»Bitte erschreckt euch nicht. Ich bin nicht gefährlich. Ich habe die Maske aufgesetzt, damit ich euch nicht anstecke. Habt keine Angst.«
»Bist du krank?«, fragt Nanna.
»Ja. Ich bin der Letzte.«
»Waren hier noch andere?«
»Ja. Aber jetzt sind sie weg. Wo kommt ihr her?«
»Wir kommen vom Meer. Dort hatten wir uns versteckt. Wo sind die anderen?«
»Sie sind tot. Alle sind tot.«
»Hast du die ganze Zeit niemanden mehr gesehen?«, fragt Nanna.
»Nein. Wir waren die Einzigen, die hiergeblieben sind. Nur unsere Familie. Und jetzt bin nur noch ich da.«
»Wir dachten auch, wir wären alleine«, sagt Nanna.
»Aber ihr seid so klein. Ihr könnt doch nicht alleine gewohnt haben.«
»Nein. Unser Vater war bei uns. Aber er ist gestorben«, sagt Nanna und hofft, dass Fride sie nicht verrät.
»Dann hat er gut auf euch aufgepasst. Hier ist alles tot. Wohin wollt ihr?«
»Wir sind auf dem Weg in die Stadt.«
»Aber da gibt es nichts mehr. Ihr müsst umkehren. Viele haben versucht, in die Stadt zu gelangen, als ihnen das Essen ausgegangen ist, aber die, die zurückkamen, erzählten alle dasselbe. Überall ist die Krankheit. Deshalb hat man die Brücke schließlich gesprengt.«
»Aber wir müssen«, sagt Nanna. »Wir müssen in die Stadt. Kannst du uns helfen, auf die andere Seite zu kommen?«
»Ich weiß nicht, ob es euer Glück oder euer Pech ist, dass ihr überlebt habt. Die Welt hat nichts mehr zu bieten. Geht nach Hause und wartet, bis die Sterne verlöschen.«
»Wir müssen in die Stadt. Das hat unser Vater uns
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