Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
gefunden«, fährt Nanna fort.
»Das kann ich euch nicht sagen. Aber ich weiß, wo es was gibt«, sagt Vogel.
»Du hast es so schön hier«, sagt Fride.
»Danke«, sagt Vogel und sieht fast schüchtern aus.
»Hast du das alles selbst gebaut?«, fragt Nanna.
»Nein. Ich habe es auf einem meiner Streifzüge entdeckt. Ich nehme an, dass hier früher jemand gespielt hat.«
»Wie lange wohnst du hier schon?«, fragt Nanna.
»Schon fast immer. Anfangs habe ich überall gewohnt. In Wohnungen, Eisenbahnwagen, Schiffen im Hafen. Überall. Ich bin von Ort zu Ort gezogen.«
»Alleine?«, fragt Fride.
»Ja«, sagt Vogel. Er nimmt die Kanne vom Ofen und schenkt ihnen dampfend heißen Kakao ein. Sie verbrennen sich fast die Zunge.
»Oh, schmeckt das gut«, sagt Fride wieder.
»Du warst immer alleine? War außer dir niemand in der Stadt?«, fragt Nanna.
»Nein. Niemand.«
»Aber wie hast du dann sprechen gelernt?«, fragt Fride.
Vogel schaut sie unsicher an.
»Ich konnte es schon immer. Aber es fällt mir nicht leicht.«
»Ich finde, du sprichst sehr gut«, sagt Nanna.
»Danke«, sagt Vogel.
»Wenn niemand in der Stadt ist … wieso wohnst du dann hier ?«, fragt Fride.
Nanna schaut sie an.
»Ich wollte irgendwo wohnen, wo es mir gefällt. An einem sichereren Ort. Dann habe ich das hier gefunden. Niemand weiß, wo es ist, und man kann es von außen nicht sehen.«
»Wegen der Schatten?«
Vogel schaut weg.
»Ja«, sagt er.
»Was sind das für Typen?«
»Das weiß ich auch nicht. Sie halten sich im Dunkeln auf. Solange man sich von der Dunkelheit fernhält, ist alles gut. Ich bin nachts fast nie unterwegs. Habt ihr eure Wohnung heute gefunden?«
»Nein.«
»Muss es denn genau die sein? Es gibt hier doch tausende von Wohnungen, wenn ihr eine Bleibe sucht?«
»Es geht nicht nur um die Wohnung«, sagt Nanna und macht eine Pause.
»Wieso seid ihr eigentlich gekommen?«, fragt Vogel langsam.
»Wir sind auf der Suche nach Medizin«, antwortet Nanna.
Vogel nickt ruhig.
»Für euren Vater?«
»Ja.«
»Wo ist er?«, fragt Vogel.
»Er ist in unserem Versteck.«
»Und wo ist das?«
»Auf einer Insel vor der Stadt.«
»Was für ein Ort ist das?«, fragt Vogel.
»Es ist einfach nur ein Haus. Mit einem Versteck«, antwortet Nanna.
»Was für ein Versteck?«
»Unter dem Haus ist ein Bunker aus dem großen Krieg. Von außen ist er nicht zu sehen.«
»Und da habt ihr gewohnt?«
»Ja.«
»Und was habt ihr die ganze Zeit gemacht?«
»Wir haben dort einfach gewohnt. Gespielt und Schule gehabt.«
»Was habt ihr gespielt?«
»Ich habe einen Schmetterling an die Wand gemalt, der heißt Plim«, sagt Fride. »Ich liebe malen. Womit spielst du am liebsten?«
Vogel antwortet nicht. Er fragt Nanna: »Und jetzt ist euer Vater krank?«
»Ja«, sagt Nanna.
»Solltet ihr wegen der Medizin hergekommen sein, kann ich nur sagen, dass es in der Stadt keine mehr gibt.«
Nanna zögert kurz, dann sagt sie: »Aber wir wissen, wo wir noch welche finden.«
»Wo denn?«
»In unserer alten Wohnung. Unsere Mutter war Ärztin und sie hat dort Medizin versteckt. Deshalb müssen wir die Wohnung finden.«
»Wer sagt das?«
»Unser Vater.«
»Und im Klavier kann die Medizin ja auch niemand gesehen haben«, sagt Fride.
Nanna wirft ihr einen scharfen Blick zu und Fride schaut schnell nach unten in ihre Tasse.
»Ach so«, sagt Vogel und steht auf. »Ich bin müde. Ihr könnt im oberen Bett schlafen.«
»Ach, Mist«, sagt Nanna. »Unsere Schlafsäcke sind unten im Anhänger.«
»Das macht nichts. Oben im Bett liegen noch ein paar alte«, sagt Vogel.
Nanna und Fride klettern hoch. Am Fußende liegen zwei Schlafsäcke. Sie kriechen hinein, während Vogel die Kerze löscht. Draußen regnet es und der Baum schaukelt sanft im Wind.
22
Am nächsten Morgen wird Nanna von Stimmen geweckt. Die eine gehört Fride, aber die andere klingt fremd. Eine fremde Stimme, die ihre Worte sorgfältig formt. Sie öffnet die Augen und sieht Fride am Esstisch unter dem Fenster sitzen. Sie unterhält sich mit dem Jungen. Vogel, denkt sie. Sonnenlicht flackert durch die Zweige vor dem Fenster und zeichnet Muster an die Wand. Fride fragt und bohrt. Vogel antwortet mit freundlicher Stimme. Manchmal grinst er ein bisschen.
»Bist du sicher, dass du keine Mama und keinen Papa hast?«
»Ja.«
»Aber das geht nicht.«
»Doch. Ich bin doch da.«
»Aber hast du nie eine Mama und einen Papa gehabt?«
»Nein.«
»Aber wer hat auf dich aufgepasst, als du
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