Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
ein Baby warst?«
»Niemand. Ich war nie ein Baby.«
»Alle waren mal ein Baby.«
»Ich nicht.«
»Warst du schon immer da?«
»Ja. Ich glaube schon.«
»Und wer hat dir das ganze Essen gegeben?«
»Niemand. Die, die früher hier gewohnt haben, haben nicht alles aufgegessen.«
»Wer hat hier früher denn gewohnt?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe die Leute nie gesehen.«
»Weißt du, wo es ein Spielzeuggeschäft gibt?«
»Ja.«
»Sind da noch Spielsachen drin?«, fragt Fride aufgeregt.
»Ja. Jede Menge«, antwortet Vogel.
»Oh«, sagt Fride.
Vogel geht zum Küchenschrank und holt ein paar Dosen und Keksschachteln.
»Aber du heißt doch nicht richtig Vogel?«, fragt Fride.
»Doch. So nenne ich mich«, sagt Vogel und klappert mit dem Dosenöffner.
»Jetzt musst du aber aufhören, so zu bohren«, sagt Nanna und richtet sich im Bett auf.
Sie springt auf den kalten Holzboden und zieht ihre Schuhe an.
»Hast du Wasser?«, fragt sie Vogel.
»Ja. Gleich draußen neben der Tür steht eine Tonne. Nach der Nacht ist sie sicher voll.«
Nanna tritt aus der Hütte in die frische, feuchte Luft. Bis auf einzelne kleine Wolken ist der Himmel blau. Sie atmet tief ein und schaut sich um. Neben der Tür steht eine Tonne mit klarem Wasser. Aus einem Rohr fallen noch immer große Tropfen auf die glatte Oberfläche. Sie taucht die Hand ein und hebt sie dann an den Mund. Das Wasser ist kalt und sauber. Rund um den Baum stehen noch andere große Eichen, deren Zweige eine undurchdringbare Wand bilden, fast wie eine Höhle im Wald. Es ist gerade noch möglich, die Hausdächer und weit inder Ferne das blaue Meer zu erahnen. Drinnen im Holzhaus hat Vogel mit Dosenbirnen und einer Packung Kekse den Tisch gedeckt.
»Danke, dass du uns gestern gerettet hast«, sagt Nanna.
Vogel antwortet nicht.
»Und vielen Dank, dass wir heute Nacht hier schlafen durften.«
»Ihr musstet ja irgendwo bleiben. Es war dumm von euch, in den U-Bahnschacht zu gehen.«
»Ja. Heute sind wir vorsichtiger. Aber wir müssen die Wohnung finden.«
»Wisst ihr, wo sie liegt?«
Nanna schüttelt den Kopf.
»Ich kann mich nicht an viel erinnern. Aber ich weiß, dass sie in der Nähe des großen Parks sein muss, der mitten in der Stadt ist. Kannst du uns helfen? Was meinst du?«
Vogel schüttelt den Kopf.
»Wenn ihr nicht wisst, wo die Wohnung ist, dann weiß ich es doch erst recht nicht? Außerdem habe ich keine Zeit. Ich habe etwas zu erledigen.«
»Was denn?«, fragt Fride.
»Das kann ich nicht sagen«, antwortet Vogel. »Etwas an einem geheimen Ort.«
Nanna steht auf.
»Vielen Dank für alles. Wir brechen jetzt auf, dann hast du Zeit, um zu tun, was du tun musst«, sagt sie.
Vogel schaut sie überrascht an, dann steht er auf und holt ihren Rucksack.
»Der gehört euch«, sagt er.
Sie gehen auf die Plattform. Der Wind kitzelt auf der Haut. Es ist ein komisches Gefühl, so plötzlich von Vogel wegzugehen. Gerade erst haben sie ihn getroffen und schon müssen sie weiter und sind wieder alleine.
»Kannst du uns sagen, wie wir zurück in die Stadt finden?«, fragt Nanna.
»Folgt einfach der Straße, an der ich euch absetze.«
»Du setzt uns ab?«
»Ja. Ich bringe euch noch ein Stück.«
Sie klettern nach unten und steigen in den Anhänger. Vogel reicht Nanna eine Tüte.
»Was ist das?«, fragt sie.
»Essen. Ihr werdet nichts finden.«
Vogel nimmt zwei Tücher aus seinem Rucksack und reicht Nanna eins davon.
»Verbinde dir damit die Augen«, sagt er. »Ich will nicht, dass ihr wisst, wo ich wohne, falls die Schatten euch erwischen.«
»Ich will nicht«, sagt Fride.
»Ich auch nicht«, sagt Nanna und schaut Vogel an.
Sein Gesicht verändert sich. Es wird finster und hart und seine Augen glänzen.
»Ihr müsst«, sagt Vogel.
»Wir wollen nicht«, sagt Nanna.
»Dann kommt ihr hier nicht weg«, sagt Vogel.
»Komm, Fride«, sagt Nanna und steht auf.
»Setz dich«, sagt Vogel. »Ihr werdet den Weg nicht finden, ohne dass euch die Schatten sehen. Aber hier ist es nur sicher, weil sie glauben, dass man hier nicht wohnen kann. Ich habe sie reden hören. Sie glauben, die Krankheit steckt in den Pflanzen und Bäumen.«
Nanna setzt sich wieder und schaut Fride an.
»Leg du dich ganz flach hin«, sagt sie zur ihr »und ich binde mir das Tuch um.«
Vogel nickt und setzt sich aufs Rad.
Fride und Nanna liegen im Wagen, so überqueren sie zuerst den Wasserfall, dann rollt der Anhänger bergab. Kies knirscht unter den Reifen. Schließlich
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