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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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Fluss entlang zu den Ladekränen und Lagerhallen. Ein Güterzug mit rostigen Waggons streckt sich wie eine Schlange in Richtung Meer. Jenseits der Gleise stehen alte, weiße Häuser am Flussufer. Das Meer glänzt dunkelblau und mitten im Fjord liegt eine Halbinsel mit einer Festungsanlage und Bunkern. Die Bunker erinnern Nanna an ihre Insel. Sie versucht zu erkennen, wo ihr Haus liegt, aber es ist unmöglich, die Inseln am Horizont voneinander zu unterscheiden.
    »Wir sind falsch gefahren«, sagt Nanna mutlos. »Wir müssen wieder zurück.«
    »Bist du sicher?«, fragt Fride.
    »Ja. Der Park ist mitten in der Stadt.«
    Nanna fährt zurück. Bergauf rutschen die Reifen an den Pflastersteinen ab, die auf dem Weg nach unten noch ein angenehmes Rütteln verursachten, und der Anhänger zerrt und wackelt am Fahrrad. Sie hatte gedacht, es würde einfacher werden, wenn sie nur erst in der Stadt sind. Als sie auf der anderen Seite hoch über dem Fluss standen, schien es so einfach, den Park zu finden.
    »Kannst du nicht ein bisschen vorsichtiger fahren?«, ruft Fride.
    Ihre helle Stimme hallt durch die schmale Straße.
    »Still, sei leise«, sagt Nanna verärgert.
    »Ja, aber es wackelt so.«
    »Sei jetzt still«, sagt Nanna.
    Fride duckt sich in den Anhänger.
    Es wäre viel besser gewesen, Fride nicht mitzunehmen. Dann hätte sie schneller fahren können und den Park bestimmt sofort gefunden. Warum ist sie nicht alleine aufgebrochen? Fride hätte doch bei Papa auf der Insel bleiben können. Das wäre schlauer gewesen. Aber es gibt Nanna auch ein bisschen Sicherheit, sie dabeizuhaben. Nicht alleine sein zu müssen.
    Direkt am Bürgersteig ist die Straße nicht gepflastert und Nanna versucht so nah an der Bordsteinkante zu fahren wie möglich. Da ruckelt es ein bisschen weniger. Sie fahren lange bergauf. In dieser Richtung dauert es viel länger. Die Sonne verschwindet hinter den Häusern und die Straßen liegen im Schatten.
    An einer Kreuzung teilen sich die Schienen und führen rechts und links an einem spitzen, dreieckigen Gebäude vorbei. Nanna hat es nicht bemerkt, als sie nach unten gefahren sind. Sie hält das Rad an und schaut lange auf die Straßenbahnschienen.
    »Was ist denn?«, fragt Fride.
    »Ich kenne den Weg nicht mehr«, sagt Nanna. »Es ist so lange her, dass ich in der Stadt gewesen bin. Wenn ich versuche, mich zu erinnern, habe ich das Gefühl genau zu wissen, wo was ist. Aber jetzt kommt mir alles so anders vor.«
    »Sind wir nicht den Schienen gefolgt, so wie wir sollten?«
    »Doch. Aber ich habe nicht bemerkt, dass eine zweite Spur dazugekommen ist«, sagt Nanna und setzt sich auf eine Bank.
    Sie legt den Kopf in die Hände, die Ellenbogen auf die Beine gestützt.
    Fride klettert aus dem Anhänger und setzt sich zu ihr. Fauliger Geruch zieht vom Meer zu ihnen herüber und in einer Gasse in der Nähe klappert der Deckel eines Müllcontainers im Wind.
    »Ich weiß nicht, wo wir sind«, sagt Nanna.
    »Das macht nichts«, sagt Fride.
    »Das macht nichts?«
    »Nein. Vorhin wussten wir auch nicht, wo wir sind.«
    Nanna grinst und drückt Fride an sich.
    »Wir müssen auf die Karte schauen«, sagt sie.
    »Ich habe Hunger«, sagt Fride.
    »Ich auch«, sagt Nanna und spürt am ganzen Körper, wie hungrig sie ist. Dieses leere, flaue Gefühl.
    Neben der Bank führt eine Treppe nach unten, geschützt von einem verglasten Vordach, das verziert ist mit schmiedeeisernen Wellen, Tieren und Menschen. Am Eingang hängt ein erloschenes, rotes Neonkreuz mit einem Pfeil, der nach unten zeigt.
    »Was ist das?«, fragt Fride.
    »Das ist die Treppe zur U-Bahn.«
    »U-Bahn? Was ist eine U-Bahn?«
    »Ein Zug, der unter der Erde fährt.«
    »Ach so, ja, aber ich meinte das rote Kreuz.«
    »Das ist ein Apothekenschild. Manche U-Bahnstationen sind ziemlich groß, mit vielen Geschäften. Daran kann ich mich erinnern.«
    »Gibt es in Apotheken nicht Medizin?«
    »Doch.«
    »Können wir nicht nachsehen, ob wir da Medizin finden? Dann könnten wir nach Hause fahren«, sagt Fride.
    »Da gibt es keine Medizin. Die hat bestimmt längst jemand mitgenommen.«
    »Aber es kann doch sein, dass niemand sie mitgenommen hat.«
    »Ich weiß nicht«, sagt Nanna.
    »Wir schauen nach. Komm jetzt, ich will zurück zu Papa.«

21
    Nanna leuchtet mit der Taschenlampe in den dunklen Eingang. Am Fuß der Treppe hat sich Müll angesammelt, an den Wänden hängen große, blasse Werbeplakate. Kühle Luft strömt ihnen entgegen und Nanna glaubt erst, das

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