Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
Nanna.
Sie bleibt stehen und betrachtet die Fenster, während Fride hinter der Kanzel verschwindet. Die einzelnen Scheiben sind zu einem großen Rad zusammengesetzt, fast wie eine Rose in der Mitte des Fensters. Umgeben von blauem Glas.
»Schau mal«, hört Nanna plötzlich Fride von oben rufen.
Ihre Stimme füllt die ganze Kirche und hallt lange nach. Nanna schaut hoch und sieht ihre Schwester neben der Orgel stehen.
»Was ist das?«, fragt Fride und zeigt auf die hohen Orgelpfeifen.
»Eine Orgel. Darauf spielt man. Aber jetzt komm wieder runter.«
»Nein«, sagt Fride. »Die Treppe geht noch weiter. Wir können in den Turm steigen.«
Nanna geht hinter der Kanzel die Treppe hoch, über die Galerie bis zu Fride, die auf eine weitere schmale Treppe zeigt.
»Gut gemacht, Fride. Vom Turm aus kann man den Park bestimmt sehen.«
Fride macht sich auf den Weg nach oben und Nanna folgt ihr. Die Treppe ist schmal und schraubt sich durch den Turm, vorbei an kleinen, verschmutzten Fenstern.
»Ich kann die Glocken sehen«, sagt Fride.
Die grünen Glocken hängen über ihnen, weiß verschmiert vom Taubendreck. Fride schaut aus einem gebogenen Fenster.
»Aber da ist nur Friedhof«, sagt sie enttäuscht.
Nanna stellt sich zu ihr und späht durch das staubige Glas. Jenseits der Mauer ist ein großes, offenes Gelände. Überall sind Gräber, flache Erdhaufen in endlosen Reihen. Dazwischen stehen riesige Denkmäler aus Beton, die sich nach dem Himmel strecken.
»Nein. Das ist nicht der Friedhof«, sagt Nanna. »Das ist der Park. Wir haben den Park gefunden, den wir gesucht haben.«
23
Entlang der Allee reiht sich ein Grab an das nächste. Die großen Wiesen sind verschwunden, bis auf schmale Streifen aus gelbem Gras ist nichts von ihnen geblieben. Nanna biegt in einen Weg ab und sie fahren an einer Skulptur vorbei, die an eine offene Hand erinnert. Vor der Skulptur verbreitert sich der Weg zu einem kleinen Kreis, neben einem Blumenbeet steht ein Eiswagen. Der rote Sonnenschirm ist abgeknickt. Das Eiswaffel-Bild daneben ist ausgeblichen und kaum mehr zu erkennen. Nanna hält an.
Fride richtet sich auf.
»Aber wir sind doch immer noch auf dem Friedhof«, sagt sie.
»Nein, sind wir nicht. Wir sind im Park«, sagt Nanna leise.
»Bist du sicher?«, fragt Fride.
»Ja. Ich glaube, genau hier habe ich schon mal gesessen und Eis gegessen.«
Nanna erinnert sich nur noch an wenige kurze Momente. An blauen Himmel. An die Kälte, als sie die Hand in den Eiswagen steckte. Ein sanfter Wind weht durch die Bäume. Sie setzt sich auf eine grüne Bank. Der Lack ist rissig und blättert an manchen Stellen ab. Fride springt auf den Kies und setzt sich neben sie.
»Es sind so viele gestorben.«
Nanna nickt.
»Aber wir sind hier. Und Vogel. Und die netten, alten Leute. Und Papa. Und die Schatten. Glaubst du, dass die Schatten tot sind?«
»Ich weiß nur, dass sehr viele Menschen gestorben sind«, sagt Nanna. »Und hier ist alles so anders als früher. Der Park sieht ganz anders aus, als ich ihn in Erinnerung habe.«
»Aber du weißt doch, dass es der Park ist. Und deshalb finden wir auch die Wohnung. Vielleicht ist Mama ja da.«
»Du glaubst immer noch, dass sie lebt, nicht wahr?«
»Ja«, sagt Fride. »Ich weiß es.«
Schweigend fahren sie weiter durch den Park. Schließlich kommen sie zu einem hohen, schmiedeeisernen Tor, Drachenfiguren schlängeln sich um die Stangen. Das muss der Haupteingang sein.
»Hier war ich schon mal. Hier haben wir gestanden. Alle drei. Vor dem Tor. Und dann sind wir nach Hause gegangen. Es war Herbst, glaube ich, und wir haben warmen Apfelkuchen gegessen.«
»War das gemütlich?«, fragt Fride.
»Ja«, sagt Nanna. »Das war es.«
»Ich habe noch nie was gemacht, das gemütlich ist«, sagt Fride. »So wie du.«
»Doch, hast du.«
»Was denn?«
»Denk doch mal an die vielen Sachen, die wir zusammen gemacht haben. Wir hatten es schön. Wir haben gespielt und gelesen. Und denk an Plim. Weißt du noch, wie wir den ganzen Bunker mit der langen Geschichte ausgemalt haben? Als Plimim Dunkeln verschwunden war. Und die Schule mit Papa. Die vielen Bücher, die er uns vorgelesen hat.«
»Ja. Aber das war alles nicht richtig. Nicht so, wie es bei dir war. Nicht mit Mama.«
»Nein. Aber denk daran, wie viel Spaß wir im Periskopraum hatten. Mit dem Theater und den vielen Spielen.«
»Da wäre ich jetzt gerne«, sagt Fride.
»Ich auch.«
»Ich glaube, Papa geht es ohne uns nicht gut.«
»Nein, das
Weitere Kostenlose Bücher