Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
glaube ich auch. Deshalb müssen wir uns beeilen. Komm jetzt. Du musst Ausschau halten«, sagt Nanna.
»Wie sieht unsere Wohnung denn aus?«
»Das weißt du doch. Wir haben es dir so oft erzählt. Da ist ein kleiner Platz mit einem Kindergarten. Und vor dem Kindergarten steht ein Schiff. Das Haus ist blau und an den Fenstern sind Figuren. Im Erdgeschoss gibt es eine Buchhandlung, eine Fahrradwerkstatt und ein kleines Lebensmittelgeschäft.«
»Ich finde das Schiff im Kindergarten komisch«, sagt Fride und lächelt.
Sie fahren den Park entlang und spähen in alle Richtungen. Die Häuser haben große Gärten und es ist schwierig, an den hohen Bäumen vorbeizuschauen. Der Anhänger springt und holpert, als sie die Straßenbahnschienen überqueren. In einem der Gärten stehen eine Schaukel und eine Rutsche. Nanna schaut nach hinten, um zu sehen, ob Fride die Spielgeräte entdeckt hat, aber Fride guckt zum Glück zu einem kleinen Bach, der auf der anderen Straßenseite vorbeiplätschert. Sie fahren an einem Gebäude vorbei, das aussieht wie eine Schule, mit hohen Fenstern und Trinkwasserbrunnen davor. Alle Straßen sehen gleich aus. Hohe Häuser und viele kleine Geschäfte. Siefahren, bis Fride ruft, dass sie Hunger hat. Nanna hält an einer Straßenbahnhaltestelle an. Als sie vom Fahrrad steigt, spürt sie, wie die Angst zurückkommt. Sie schaut sich um, aber es ist nichts zu sehen. Nur Fensterreihen mit zugezogenen Vorhängen. Kleine Balkone mit Vogelkäfigen und Fahrrädern. Fride steigt aus dem Anhänger und streckt sich, dann setzt sie sich auf die schmale Bank unter dem roten Dach der Haltestelle. Ein verblasster Fahrplan hängt hinter ihr. Die roten und grünen Linien sind unter dem blasigen Plastik kaum zu erkennen.
»Was machen wir jetzt? Ich kann nicht mehr, ich mag nicht mehr suchen«, sagt Fride.
»Das müssen wir aber. Wenn wir die Wohnung bis morgen nicht gefunden haben, kehren wir um, bevor es Papa noch schlechter geht«, sagt Nanna und nimmt die Karte aus dem Rucksack.
»Kannst du sehen, wo wir sind?«
»Ich versuche es«, sagt Nanna. »Sei nicht so ungeduldig.«
»Ich habe Hunger«, sagt Fride.
»Im Rucksack ist Essen«, sagt Nanna ohne aufzusehen.
Fride packt die Würstchen aus, die sie von Vogel bekommen haben, und eine Flasche Wasser.
»Wo sollen wir denn ohne Vogel mehr Essen herbekommen?«, fragt Fride.
»Weiß ich nicht«, sagt Nanna und nimmt sich auch ein Würstchen. »Wir müssen suchen.«
»Siehst du jetzt, wo wir sind?«
»Nein«, sagt Nanna. »Papa hat kaum etwas eingezeichnet. Hafen, Straßen und Brücken – das ist alles richtig, aber in der Stadt selbst kann man kaum etwas erkennen. Nur einen großenPark in der Mitte. Ich kapiere nicht, warum er nicht mehr eingetragen hat.«
Nanna spürt, wie die Wut in ihr aufsteigt. So war es mit allem. Der Bunker war unordentlich und im Vorratslager gab es kein Essen mehr. Außerdem hätten sie schon längst rausgehen können. Spielen, am Strand sein. Niemand hätte sie gesehen. Sie sieht Papas ängstliches Gesicht vor sich, als sie die Luke zum ersten Mal öffneten. Sie hätten es schon viel früher tun sollen, statt auf ihn zu hören. Dann wären sie jetzt vielleicht alle drei hier und nicht nur Fride und sie.
»Mit der Karte werden wir die Wohnung nicht finden. Wir können nur suchen. Du musst nach einer Art kleinem Park mitten in einer Straße Ausschau halten, mit einem Schiff direkt hinter dem Tor. Da ist der Kindergarten«, sagt Nanna und steht auf.
Die Nachmittagssonne wärmt ihren Rücken und ihr Blick fällt auf den Fahrplan hinter Fride. Die bunten Linien verlaufen kreuz und quer. In der Mitte des Plans ist ein hellgrünes Gebiet aufgedruckt.
»Mach mal Platz«, sagt Nanna.
»Was ist denn?«, fragt Fride und blinzelt in die Sonne.
»Hinter dir ist ein Fahrplan. Ich erinnere mich wieder. Ich habe mich immer auf die Bank gekniet und bin die Linien mit dem Finger nachgefahren, wenn wir auf die Straßenbahn gewartet haben. Ich habe immer so getan, als wären es Schlangen, die sich ineinander verknotet haben.«
»Hast du?«, sagt Fride und dreht sich um.
Nanna folgt den Linien mit dem Finger. Fride macht dasselbe, nur ein bisschen weiter unten auf der Karte.
»Siehst du das Grüne in der Mitte?«
»Ja.«
»Das muss der Park sein.«
»Weißt du jetzt, wo unsere Wohnung ist?«, fragt Fride.
»Nein. Das kann man hier nicht sehen. Der Fahrplan zeigt nur, wohin die Straßenbahnen fahren.«
»Ja, aber du hast doch gesagt,
Weitere Kostenlose Bücher