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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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wird.«
    Nanna geht zu einem Blumenbeet, hebt einen der Randsteine auf und schleudert ihn mit aller Kraft in die große Glasscheibe.
    Die Tür zersplittert mit einem lauten Knall, Scherben rieseln auf den Asphalt. Der Krach lässt beide Mädchen zusammenfahren. Fast wie vor ein paar Tagen, als der Hund erschossen wurde. Auf jeden Fall kommt es ihnen so vor. Nanna bereut es sofort. Sie hätte nicht solchen Lärm machen dürfen, es könnten schließlich Schatten in der Nähe sein. Aus der Tür strömt ein trockener, sauberer Geruch. Es riecht wie der Medizinschrank im Bunker.
    Nanna nimmt ihre Taschenlampe und tritt in das Halbdunkel des Eingangs. Fride folgt ihr vorsichtig. Sie hält die Luft an und atmet mit einem Stöhnen aus.
    »Was machst du?«, flüstert Nanna.
    »Ich halt die Luft an, was sonst. Wegen der Krankheit.«
    »Das bringt nichts. Komm jetzt«, sagt Nanna und geht langsam weiter.
    Im Foyer stehen blaue und grüne Tische und Stühle verteilt vor einer Theke.
    »Das ist die Cafeteria. An die erinnere ich mich. Die Apotheke muss weiter hinten sein. Und Mamas Büro ist da drüben im ersten Stock«, sagt Nanna.
    »Warst du in Mamas Büro?«
    »Ja. Manchmal musste ich sie begleiten. Ich habe dann an ihrem Schreibtisch gesessen und gemalt.«
    Auf den Tischen in der Cafeteria stehen Kaffeebecher und Pappteller. Es sieht aus, als hätte gerade eben noch jemand dort gesessen und gegessen. Nanna schaudert. Sie geht zu einem der Tische. Auf allem liegt eine dünne Staubschicht. Sie nimmt eine Tasse weg und zurück bleibt ein sauberer, deutlicher Kreis.
    »Hier ist lange niemand mehr gewesen«, flüstert sie.
    »So viel Müll«, sagt Fride. »Wart ihr auch hier, als ich geboren wurde, Papa und du?«
    »Ja. An dem Tag, an dem du nach Hause kommen solltest, saßen wir hier und haben gewartet, dass Mama mit dir runterkommt. Wir saßen auf diesen Stühlen da. Papa, Oma und ich«, sagt Nanna.
    »Ich kann mich nicht an Oma erinnern«, sagt Fride.
    »Nein. Kurz nachdem du auf die Welt gekommen bist, ist sie gestorben. Glaube ich.«
    »War sie lieb?«
    »Ja. Aber ich kann mich auch kaum mehr an sie erinnern. Ich weiß noch, dass sie einen sauren, roten Saft gemacht hat. Der war so sauer, dass man ihn fast nicht trinken konnte«, sagt Nanna und lächelt. »An dem Tag, an dem du nach Hause gekommen bist, haben wir ihn auch bekommen.«
    Nanna fröstelt und sie steht ganz still. Unten aus dem Keller dringen dumpfe Geräusche. Das sind Türen, denkt sie. Türen, die sich öffnen und schließen, als würde jemand durch die Gänge laufen.
    »Sie kommen«, ruft Fride und dreht sich zum Ausgang. Nanna hält sie zurück.
    »Jetzt müssen wir mutig sein, Fride«, sagt sie. »Wir müssen mit den Schatten reden. Wenn sie zu nahe kommen, rennst du weg. Du musst alleine rennen. Hast du mich verstanden?«
    Fride nickt.
    Und sie warten. Die Schritte und das Türenknallen werden lauter, immer lauter. Sie kommen aus dem Keller, denkt Nanna. Sie hört, wie eine Tür gegen die Wand knallt. Schritte auf der Treppe.
    Eine dunkle Gestalt stürmt auf sie zu. Sie ist ganz schwarz gekleidet und das Gesicht wird von einer Gasmaske mit glänzenden Augen verdeckt, die an ein Insekt erinnern. Nanna spürt, wie sich Frides Finger in ihre Hand bohren. Als Nanna und Fride einfach stehen bleiben, stoppt die Gestalt schlagartig und schaut sich um. Es ist wirklich ein Schatten, denkt Nanna. Einer von denen, die im Dunklen leben.
    »Seid ihr alleine?«, fragt der Schatten. Seine Stimme ist tief und durch die Gasmaske nur undeutlich zu verstehen.
    Nanna antwortet nicht, sondern starrt ihn nur an.
    »Was wollt ihr hier?«
    Nanna antwortet nicht. Sie schaut nach draußen zum Fahrrad. Es steht nicht weit weg. Sie können es schaffen.
    »Was wollt ihr hier?«, wiederholt der Schatten.
    »Wir brauchen Medizin«, sagt Nanna.
    »Hier gibt es keine Medizin. Ihr müsst gehen.«
    »Aber wir haben keine Wahl, wir müssen Medizin finden«, sagt Nanna und ihre Hand schließt sich fester um Frides.
    »Hier gibt es nichts. Und haltet euch von unserem Gebiet fern. Verstanden?«
    Nanna will etwas zu dem Schatten sagen, aber sie traut sich nicht.
    Sie rennen durch die Cafeteria und die eingeschlagene Glastür nach draußen. Nanna springt auf das Rad und Fride stürzt sich in den Anhänger. Als sie durch das Tor fahren, wirft Nanna einen Blick zurück. Der Schatten ist in der Tür stehen geblieben, genau da, wo kein Sonnenlicht hinfällt. Dann schüttelt er langsam den Kopf. Nanna

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