Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
dass die Straßenbahn an der Wohnung vorbeigefahren ist.«
»Schon, aber ich weiß nicht mehr, welche Linie die richtige ist. Schau doch mal, wie viele da sind. Früher wusste ich es natürlich, aber es fällt mir einfach nicht mehr ein.«
Nanna bewegt die Hand vor und zurück über den Plan und stoppt an einem roten Kreuz.
»Und was hilft uns das jetzt?«, fragt Fride.
»Siehst du das Kreuz da? Das könnte das Krankenhaus sein. Vielleicht gibt es in Mamas Büro Medizin.«
»Aber woher sollen wir wissen, wo wir sind?«
»Wir sind auf einer roten Linie«, sagt Nanna. »Schau dir das Dach an.«
Fride schaut hoch.
»Oh ja. Das Dach ist rot«, sagt Fride.
»Ich muss nur herausfinden, wie die Haltestelle heißt und dann können wir den Schienen folgen.«
Nanna liest den Namen, der am Dach steht, und schaut auf die Karte, dann wendet sie das Fahrrad und fährt los, immer an den Schienen entlang. Über ihnen verlaufen kreuz und quer Oberleitungen.
»An der nächsten Haltestelle sehen wir, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn wir falsch sind, drehen wir einfach um.«
Nanna ist zufrieden. Jetzt, wo sie wissen, wohin sie müssen, erscheint ihr die Stadt viel weniger verlassen. Sie fahren anein paar Geschäften mit bunten Bildern an der Fassade vorbei und an mehreren Läden mit Kleidung. Nanna dreht sich zu Fride um, die alle Geschäfte aufmerksam betrachtet. Die nächste Haltestelle ist direkt vor einem großen Schuhgeschäft. Im Fenster sind jede Menge Sandalen ausgestellt, rote, grüne, geblümte und gestreifte.
Nanna hält an und liest.
»Da«, sagt Fride, »Solche wünsche ich mir.«
»Aha«, sagt Nanna und lächelt Fride an. »Und wir sind auf dem richtigen Weg.«
24
Hinter einem hohen Tor stehen mehrere massive, gelbe Gebäude.
»Das ist das Krankenhaus!«, sagt Nanna und fährt durch die Einfahrt. Hoch türmen sich die Häuser vor ihnen auf. Vor dem Eingang steht ein rot-weißer Krankenwagen mit geöffneten Hecktüren. Nanna lenkt das Fahrrad dahinter und gibt Fride ein Zeichen, leise zu sein.
Dann wartet sie. Nach und nach dringen die einzelnen Geräusche in ihr Bewusstsein. Die Jalousie, die vor einem zerbrochenen Fenster im Wind wackelt. Das Gluckern von Wasser, das unter ihnen aus dem Abwasserbecken sickert. Nach einer Weile hat sie das Gefühl, die Geräusche an diesem Ort zu kennen. Die sichere Stille. Sie weiß, dass sie jeden Laut wahrnehmen wird, der nicht hierhergehört. Nanna lässt den Blick über die Fensterreihen schweifen, aber alle sehen leer aus.
»Weißt du, was hier passiert ist?«, flüstert sie.
»Nein.«
»Hier bist du geboren worden.«
»Ist das wahr?«, sagt Fride und richtet sich im Anhänger auf.
»Ja. Hier warst du schon mal.«
»Schau«, sagt Fride und zeigt auf die verschlossene Glastür.
»Da sind überall gelbe Kreise. Dann ist das hier kein schöner Ort.«
»Aber das war er, als du auf die Welt gekommen bist.«
»Daran erinnere ich mich nicht.«
»Nein«, sagt Nanna und fährt auf die Eingangstür zu. »Aber du kannst sicher sein, dass ich die Wahrheit sage. Es war wunderschön, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe vorher keinen Bissen runtergebracht, weil ich so aufgeregt war.«
»Ich glaube, ich möchte da nicht reingehen.«
»Das weiß ich, Fride, aber wir brauchen Medizin«, sagt Nanna und steigt vom Rad. Sie drückt ihr Gesicht an die Glastür. Innen hängt ein gelbes Papier.
»Fride. Hör zu. Da steht Quarantäne.«
»Was bedeutet das?«
»Dass es verboten ist reinzugehen. Bestimmt wegen der Krankheit.«
»Steht da noch mehr?«
»Das Krankenhaus ist gesperrt. Es ist verboten, sich auf dem Gelände aufzuhalten. Jeder, der nach erfolgter Evakuierung auf dem Gelände angetroffen wird, wird festgenommen«, liest Nanna vor.
»Was heißt evakuiert noch mal?«
»Dass alle fortgebracht wurden und niemand hierbleiben durfte.«
»Sind alle weggegangen?«
»Hier auf dem Zettel steht Mamas Name«, unterbricht Nanna sie.«
»Wo?«, fragt Fride.
»Da«, sagt Nanna und zeigt auf die Unterschrift ganz unten auf dem Blatt. »Mama hat das Papier unterschrieben.«
»Dann ist sie hier. Ich habe doch gesagt, dass ich es weiß«, sagt Fride lächelnd.
»Sie ist nicht hier, aber vielleicht ist sie mit den anderen weggegangen. Mit denen, die nicht gestorben sind. Wir müssen rein. Vielleicht finden wir in der Apotheke oder in Mamas Büro doch noch Medizin. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vielleicht, die Stadt zu verlassen, bevor es dunkel
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