Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
würde«, sagt Nanna und schweigt einen Moment, bevor sie weiterspricht. »Davor habe ich Angst – ich wäre furchtbar traurig, wenn ihnen etwas zustoßen sollte.«
»Ich habe keine Angst«, sagt Vogel und geht in die Hütte.
Nanna und Fride bleiben draußen sitzen. Es ist ein warmer Abend und es tut gut, an einem Ort zu sein, an dem sie sich sicher fühlen. Sie haben an so vielen unterschiedlichen Plätzen geschlafen, seit sie von zu Hause aufgebrochen sind. In der Hütte brennen Öllampen unter der Decke und warmes Licht fällt auf die Zweige. Drinnen geht Vogel hin und her, stellt etwas auf den Tisch und fängt an, damit zu hantieren. Er dreht dem Fenster den Rücken zu, als sollten sie nicht sehen, was er tut. Nanna versucht, nach den Geräuschen der Stadt zu lauschen. Sie sieht schwarze Schatten vor sich, die mit ihren schrecklichen Gasmasken durch die Straßen jagen. Aber alles, was sie hört, ist das leise Rauschen des Windes. Nicht mal aus dem Wald dringen Geräusche. Keine zirpenden Grillen oderMücken, die im Licht tanzen. Es gibt keine anderen Menschen in der Stadt. Aber vielleicht kommen nach und nach welche zurück? Vielleicht haben sich viele an verlassenen Orten versteckt, so wie sie selbst auch, und kommen irgendwann zurück, einer nach dem anderen. Es können doch nicht alle Menschen tot sein, die aus der Stadt geflohen sind? Nanna versucht sich auszumalen, wie es ihrer Mutter geht. Ob sie in einem Bunker wohnt oder in einem Haus am Meer, aber sie schafft es nicht, sich vorzustellen, dass Mama irgendwo ohne sie leben soll.
»Was machen wir morgen?«, fragt Fride.
»Ich weiß nicht«, antwortet Nanna.
»Aber … Was passiert, wenn wir keine Medizin finden?«
»Das weißt du doch«, sagt Nanna und legt einen Arm um Fride. Sie kann es nicht aussprechen. Sie bringt es ja selbst kaum fertig, auch nur daran zu denken. Dass sie auf die Insel und zum Haus zurückkehren und alles ist still.
Fride zittert und verschließt den Mund. Tränen rinnen ihr über die Wange, ohne dass ein Laut zu hören ist.
»Ich möchte nach Hause«, flüstert Fride. »Zum Bunker und zu Plim. Und Papa.«
»Ich auch. Morgen fahren wir heim.«
Nanna denkt daran, wie wenig Fride hat. Ihr fehlen die Erinnerungen an Mama und die Stadt. Alles, was Fride kennt, ist Papa, der Bunker und sie. Und jetzt ist Papa vielleicht nicht mehr da.
»Wie geht es Papa?«, fragt Fride.
»Ich glaube, es geht ihm gut«, sagt Nanna und versucht, die Tränen zurückzuhalten. »Er hatte ja ein bisschen Medizin. Nicht wahr?«
»Ja.«
»Weißt du, worauf ich mich am meisten freue?«, sagt Nanna.
»Nein«, sagt Fride.
»Darauf, dass nichts passiert. Dass wir aufwachen, weil Papa das Periskop dreht. Dass wir nichts zu tun haben. Nur aufstehen und frühstücken und dann in den Periskopraum gehen und uns langweilen. Stell dir mal vor, genau darauf habe ich Lust!«
»Ja«, sagt Fride. »Und die alten Comics über Ritter, geheime Inseln und Unterseeboote lesen, die Papa von Opa bekommen hat.«
Nanna grinst, aber es wird nicht besser.
Der Mond leuchtet gelb und über ihnen funkeln die Sterne. In der Hütte steht Vogel vom Tisch auf und kommt lächelnd aus der Tür. In der Hand hält er ein graues Päckchen. Er lächelt so komisch, denkt Nanna, als würde er das Lächeln nur nachahmen.
Er bleibt stehen, als er sie sieht, und sein Lächeln verschwindet.
»Was ist los?«, fragt er.
»Nichts«, sagt Nanna.
Fride beugt ihren Kopf zu Nanna und versteckt ihr Gesicht.
»Habt ihr immer noch Angst vor den Schatten? Das braucht ihr nicht. Hierher kommen sie nicht. Da bin ich ganz sicher.«
»Das ist es nicht«, sagt Nanna.
»Gut«, sagt Vogel. »Wie geht es Fride?«
»Es geht schon wieder.«
»Gut. Ich habe nämlich eine Überraschung für dich, Fride«, sagt er und hockt sich neben sie.
Er zieht etwas hervor, das in ein Tuch eingewickelt ist. Fride presst ihr Gesicht fester an Nanna.
»Wenn du schaust, dann gebe ich es dir«, sagt Vogel.
Langsam dreht Fride ihr Gesicht zu ihm.
»Ist das für mich?«
»Ja.«
»Was ist es?«
»Das sage ich nicht«, sagt Vogel und sieht sie gespannt an.
Fride dreht sich ganz um und nimmt das Paket. Sie faltet das Tuch auseinander und ein Malkasten und Pinsel kommen zum Vorschein.
»Danke! Tausend Dank«, sagt sie und fällt Vogel um den Hals.
»Gern geschehen«, sagt Vogel.
»Vielen Dank«, sagt Nanna. »Das war lieb von dir.«
Fride klappt den Deckel auf und betrachtet in dem schwachen Licht die Farben.
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