Der Junge, der Träume schenkte
schienen ihn streng anzusehen. Christmas beschloss hineinzugehen, unter dem blinden Statuenblick des Eisenbahnmagnaten Cornelius »Commodore« Vanderbilt. Und mit einem Mal war ihm, als bliebe ihm keine Zeit mehr.
Er rannte hinüber zu Gleis fünf. Er wollte sie sehen, ein letztes Mal. Damit ihre Gesichtszüge, die er längst auswendig kannte, sich unauslöschlich in seine Augen einbrannten. Weil Ruth zu ihm gehörte und er zu Ruth.
Außer Atem bahnte er sich einen Weg durch die Menschenmenge auf dem Bahnsteig und lief von Wagen zu Wagen, während die Angst, sie nicht zu finden, ihm die Kehle zuschnürte. Die Abfahrt des Zuges war bereits angekündigt. Sieben Uhr neunundzwanzig. Drei Minuten. Drei Minuten blieben ihm noch, bevor Ruth aus seinem Leben verschwinden würde.
Da endlich entdeckte er sie. Mit abwesender Miene, den Blick ins Leere gerichtet, saß sie am Fenster. Christmas wollte ans Fenster klopfen, durch die Scheibe ein letztes Mal ihre Hand berühren. Doch er hatte nicht den Mut, sich Ruth zu nähern. Inmitten der umherschwärmenden Menschen stand er reglos da und beobachtete sie. Ohne zu wissen, aus welchem Grund, nahm er seine Mütze ab. Plötzlich sah er, wie Ruth auf etwas hinabblickte, das sie in der Hand hielt. Und dann band sie sich dieses Etwas um den Hals. Christmas’ Beine begannen zu zittern.
»Es ist scheußlich«, sagte im Innern des Wagens Ruths Mutter, die ihr gegenübersaß und auf den herzförmigen Anhänger starrte, den Ruth sich um den Hals gebunden hatte.
»Ich weiß«, sagte Ruth und fuhr mit dem Finger über das rot glänzende Herz. Sie streichelte es. Mit Liebe, wie sie sich eingestand, nun, da sie abreiste und nichts mehr riskierte. Schließlich blickte sie durch das Fenster auf das Gleis hinaus.
Und da entdeckte sie ihn, das über der Stirn zerzauste weizenblonde Haar, die dunklen tiefgründigen, leidenschaftlichen Augen. Die alberne Mütze in der Hand. Und im gleichen Augenblick, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, verschwand Christmas hinter einem Schleier von Tränen.
Unsicher löste er sich aus der Menge und trat einen Schritt vor. Doch es war bereits zu spät, sie konnten einander nichts mehr sagen. Nur ihre Augen hielten einander fest. Und ihre tränengetrübten Blicke bargen in sich mehr Worte, als sie hätten aussprechen, mehr Wahrheiten, als sie hätten gestehen, mehr Liebe, als sie hätten zeigen können. Und in ihnen lag mehr Schmerz, als sie zu ertragen imstande waren.
»Ich werde dich finden«, sagte Christmas leise, als der Zug schnaufte und sich in Bewegung setzte.
Christmas sah, dass Ruth mit einer Hand das rote Herz umschlossen hielt, das er ihr geschenkt hatte.
»Ich werde dich finden«, wiederholte er, während Ruth immer weiter fortgetragen wurde.
Als Christmas aus ihrem Blickfeld verschwand, richtete Ruth sich in ihrem Sitz auf. Eine Träne rann ihr über die Wange.
Ihre Mutter betrachtete sie mit dem ihr eigenen kalten und distanzierten Gesichtsausdruck. Auch sie hatte Christmas entdeckt, nachdem sie bemerkt hatte, wie aufgewühlt ihre Tochter war. Sie musterte sie noch eine Weile, bevor sie sich ihrem Mann, der eine Zeitung aufgeschlagen hatte, zuwandte. »Eine Jugendliebe ist wie ein Sommergewitter«, seufzte sie gelangweilt. »Im Handumdrehen lässt die Sonne das Wasser verdunsten, und kurz darauf erinnert nichts mehr daran, dass es überhaupt geregnet hat.«
Ruth stand auf.
»Wohin gehst du, Schatz?«
»Zur Toilette.« Ruth blitzte sie zornig an. »Darf ich?«
»Schatz, reiß dich zusammen«, gab ihre Mutter zurück und griff nach einer der Zeitschriften, die sie sich regelmäßig aus Paris schicken ließ.
Ruth hielt Ausschau nach dem Wagenkellner, ließ sich eine Schere geben und schloss sich damit im Waschraum ein. Sie legte ihre Kleider ab und schlang den Verband, der ihre Brüste abschnürte und verbarg, noch enger um sich. Als sie sich wieder angezogen hatte, schnitt sie fest entschlossen mit der Schere ihre langen Locken ab, vorne auf Kinnlänge, im Nacken kürzer. Sie versuchte, sie mit Wasser zu glätten. Nachdem sie dem Kellner die Schere zurückgebracht hatte, setzte sie sich wieder auf ihren Platz, ihrer Mutter gegenüber.
Die Reise nach Kalifornien hatte begonnen.
Leb wohl, dachte Ruth.
Z WEITER T EIL
33
Manhattan, 1926
Am späten Vormittag des zweiten April 1926 – Christmas’ achtzehntem Geburtstag – lag über einem weiten Teil der Straße beißender Rauch, der in den Augen brannte. Raunend drängten sich
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