Der Junge, der Träume schenkte
gerichtet. Vielleicht wiederholte sie sie schlicht auf der Suche nach Halt, während sie sich an ihren Sohn klammerte, der alles war, was ihr noch geblieben war.
Christmas hielt ihren Blick nicht aus und entwand sich dem Griff des Polizisten. »Gehen wir«, sagte er schroff zu Joey und drängte sich mit ausgefahrenen Ellbogen wütend durch die Menge, als bekäme er plötzlich keine Luft mehr. Außer Atem blieb er erst stehen, als er auf der anderen Straßenseite angelangt war. Erneut betrachtete er die gesamte Szenerie – die Schaulustigen, den Feuerwehrwagen, der den Laden verdeckte, den Rauch, der über der Metzgerei in die Höhe stieg –, jetzt jedoch kannte er jedes einzelne Detail. Wo warst du?, grübelte er. Wo bist du die ganze Zeit gewesen? »Ach, verflucht!«, schimpfte er schließlich laut, um die Selbstvorwürfe zu übertönen, die er nicht mehr unterdrücken konnte.
»Ach, verflucht!«, rief auch Joey aus, doch er lachte dabei. »Lass uns schleunigst abhauen.«
Christmas fuhr herum. Hinter Joey erkannte er die Mitglieder der Jugendbande, die ihn nicht gewollt hatte, als er noch ein Kind gewesen war. All diese Jungs hatten einen ebenso abgebrühten, kalten und teilnahmslosen Blick wie Joey. Ihre Hände steckten in den Hosentaschen. Und sie grinsten, während sie ihn musterten. Unbedeutende Handlanger der Ocean Hill Hooligans waren sie geworden. Unentwegt lungerten sie bei Sally’s Bar & Grill herum und warteten, dass irgendjemand ihnen einen Auftrag gab.
»War das Dasher?«, schrie Christmas und ging auf sie los.
Doch Joey hielt ihn zurück. Dann ertönte der Pfiff eines Polizisten. Alarmiert drehte Christmas sich um. Als er wieder nach der Gang Ausschau hielt, war die Straße wie leer gefegt.
»Weg hier, verdammt!«, sagte Joey.
Eilig folgte Christmas ihm. Er rannte beinahe. Und bald waren sie im schmutzigen Labyrinth des Ghettos untergetaucht. In einer engen Gasse blieben sie schließlich stehen. Joey zog sein Hemd aus der Hose und ließ einen Damengeldbeutel, eine Brieftasche, eine Taschenuhr und ein paar Münzen auf die Pflastersteine fallen. Er lachte.
»Ich hab dir doch gesagt, ich war einkaufen«, sagte er, während er den Geldbeutel und die Brieftasche durchsuchte, alte Fotos und zerknitterte Zettel wegwarf und zwei magere Dollar herausfischte. »Armseliges Pack«, brummte er kopfschüttelnd.
»Das war Frank Abbandando«, sagte Christmas.
»Ja, und?«
»Pep wollte ihm kein Schutzgeld zahlen.«
»Blöder Arsch«, meinte Joey schulterzuckend und voller Groll. »Weißt du noch, was dieser Scheißmetzger zu mir gesagt hat? Fahr zur Hölle, Pep! Du kannst mich mal. Ich bin hier, und du bist ein gegrillter Arsch.«
Mit verbissener Miene presste Christmas ihm den Unterarm an die Kehle, stieß ihn mit Wucht gegen die Mauer und drückte ihm die Luft ab. Aber erneut sah er sich selbst in Joeys schwarzen Pupillen.
»Du bist der Junge, den Pep von der Straße fernhalten wollte, hab ich recht?« Die Worte der Witwe schwirrten Christmas durch den Kopf. Und während er sich in Joeys Augen spiegelte, erkannte er sich wieder. Er war wie Joey. Er war wie die Ocean Hill Hooligans. Er war wie Frank Dasher Abbandando. Er war ein Ganove. Und er würde zum Mörder werden. Denn wenn das eigene Leben nichts wert ist, wenn man keine Achtung vor sich selbst hat, sind irgendwann auch die anderen nichts mehr wert. Andere wie Pep. Ein gegrillter Arsch. Er ließ Joey los.
Joey hustete, spuckte aus und atmete einige Male keuchend. »Verdammt, was ist denn in dich gefahren?«, sagte er und trat gegen den leeren Geldbeutel. »Was ist in dich gefahren, verfluchte Scheiße?«
34
Manhattan, 1926
Die Reifen quietschten auf dem groben Asphalt der Cherry Street, als der Cadillac Type V-63 auf den Straßenrand zusteuerte. Christmas wandte sich um. Noch während der Fahrt wurde die Wagentür aufgestoßen. Er sah, wie ein Mann um die dreißig – blond, helle Augen, Segelohren und eine eingeschlagene Adlernase – vom Trittbrett auf ihn zusprang, ihn am Kragen packte und ihm den Griff einer Pistole gegen die Stirn schlug. Dann wurde er in Richtung des Autos gestoßen und fand sich gleich darauf im Wageninneren wieder. Während ihm das Blut in die Augen rann, stürzte er vornüber mit dem Kopf auf die Beine eines gut gekleideten dunkelhaarigen Mannes mit einem grauen Hut und einem Gesicht, das mit seinem offenen Lächeln und der knubbeligen Nase an einen Cockerspaniel erinnerte. Der Mann nahm ihn bei den Schultern und
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