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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Schaulustige rings um den Feuerwehrwagen, der den Laden verdeckte.
    Christmas war groß und kräftig geworden. Knapp unter dem linken Auge hatte er eine noch frische Narbe. Und auf den unrasierten Wangen wuchs ihm ein spärlicher blonder Bart. Er trug einen Anzug, wie ihn sich nicht viele hier hätten leisten können, der jedoch zerknittert und schmutzig war. In der rechten Tasche steckte ein Klappmesser. Seine Augen wirkten glanzlos, wie erloschen und schauten stets voller Zynismus in die Welt, kalt und hart. Dieser Blick war das äußere Zeichen dafür, dass Christmas in den vergangenen Jahren wie die anderen Jugendlichen geworden war, die auf der Straße und von der Straße lebten.
    Gefolgt von Joey, drängelte er sich durch die Reihen der Neugierigen, die er zur Seite schubste, wenn sie ihm im Weg standen. Er musste unbedingt sehen, was hinter dem Feuerwehrwagen vor sich ging. Er musste einen Blick auf den Laden werfen. Und während er sich durch den Rauch kämpfte, der dichter und dichter wurde, hörte er, wie ein Mann sagte: »Ganz allein konnte er das nicht schaffen.« Und ein anderer: »Er war stur wie ein Esel.« Eine kleine, magere Frau, der die Bosheit der Schwachen und Hungerleidenden ins Gesicht geschrieben stand, sagte: »Er hielt sich eben für was Besseres.« Und wieder ein anderer meinte: »Schutzgeld muss man zahlen«, wobei er sich an einen Nachbarn wandte, der antwortete: »Ob nun an irische Polizisten oder an diese italienischen und jüdischen Schurken, Schutzgeld muss man zahlen.«
    Der Rauch trieb Christmas die Tränen in die Augen, aber vor allem stieg ihm – je näher er dem Feuerwehrwagen kam – ein scharfer und giftiger Geruch in die Nase. Ein Geruch, den er wiederzuerkennen glaubte.
    »Ich hatte ihn gewarnt«, bemerkte ein kräftiger Mann, an dem Christmas sich nur mit Mühe vorbeischieben konnte. »Er hat es darauf angelegt«, sagte ein anderer, beinahe grollend. »Was für ein schlimmes Ende!«, murmelte eine schwarz gekleidete Frau entsetzt und bekreuzigte sich. »Was sind das nur? Tiere? Teufel?«, schimpfte ihre Begleiterin, doch es klang matt und resigniert. Wie alle anderen im Lower-East-Side-Ghetto wusste wohl auch sie, dass die Antwort auf diese Frage ein simples Ja war.
    Ein Geruch wie von angebranntem Braten, von zu lange gekochtem Fleisch, dachte Christmas, als er nur noch wenige Schritte vom Feuerwehrwagen entfernt war. Der Wagen verdeckte noch immer den Laden, aus dem sich der dichte, feuchte Rauch des gerade erst eingedämmten Brandes seinen Weg ins Freie suchte. Ein Geruch wie von angebranntem und dann abgelöschtem Braten.
    Gleich hinter dem Feuerwehrwagen hatten einige Polizisten einen Halbkreis gebildet und drängten die Schaulustigen zurück. Drohend hoben sie ihre Schlagstöcke und brüllten Befehle, die niemand zu beachten schien.
    »Ach du Scheiße.« Joey lachte auf, als Christmas und er nebeneinander in vorderster Reihe standen, von Angesicht zu Angesicht mit einem feisten, in Schweiß gebadeten Polizisten mit roten Haaren. Von Angesicht zu Angesicht mit dem, was vom Laden übrig war.
    Christmas hatte noch immer den harten und kalten Blick, der sich in den zwei Jahren seit Ruths Wegzug in sein Gesicht geprägt hatte, als er nun durch den sich lichtenden Rauch hindurch allmählich ins Innere des Ladens sehen konnte, der Metzgerei, die Giuseppe LoGiudice gehört hatte, allen bekannt als Pep. Christmas erkannte die Arbeitsplatte aus hellem Marmor, der in der Hitze zerborsten war. Und er sah die unzähligen zusammengeschmolzenen Scherben der Fleischtheke wie Pailletten auf den schwarz verkohlten, qualmenden Fleischstücken glitzern, die im Löschwasser umherschwammen. Er sah steif am Haken hängende Wurstketten, aus denen das Fett heraustropfte, zersprungene, aus ihrem Mörtelbett gerissene weiße Wandfliesen, und an den nackten Wänden sah er Spuren, als hätten die Flammen lange, zur Decke hin spitz zulaufende schwarze Zungen hineintätowiert, verewigt im Moment ihres letzten gierigen, allen Sauerstoff verschlingenden Aufloderns.
    Und in einer dreieckigen großen Spiegelscherbe, die einer der Feuerwehrleute soeben aus dem Laden trug, sah Christmas für eine Sekunde sich selbst. Seinen leeren, gefühllosen Blick. Und er erkannte sich nicht wieder.
    Während die Feuerwehrleute den Metallstutzen vom Hydranten lösten und den gewachsten Löschschlauch wieder auf den Schlauchwagen des Feuerwehrautos rollten, bemerkte Christmas einen Lieutenant der Polizei und hinter ihm

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