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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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eine etwa fünfzigjährige Frau, die verzweifelt schluchzte und sich an die Schultern eines Mannes um die dreißig klammerte, der groß und kräftig war, riesige Hände hatte und Pep ähnelte wie ein Ei dem anderen. Du hattest eine Frau und einen Sohn, schoss es Christmas durch den Kopf. Das wusste ich nicht, Pep.
    Ein plötzlicher Windstoß verfing sich im Laden – gerade als der Lieutenant die Frau warnte: »Sehen Sie nicht hin, Mrs. LoGiudice!« – und blies den Rauch hinaus, schlug ihn der Menge ins Gesicht wie eine giftige Ohrfeige, bevor er ihn hoch in der Luft zerstreute. Und da sah Christmas Pep. Er sah, was von ihm übrig war. Mitten in der Metzgerei.
    Die Frau schrie auf.
    Der Stuhl war aus Metall. Der Stuhl, auf dem Pep immer gesessen hatte, wenn er in der Gasse hinter dem Laden seine Zeitung gelesen hatte. Und Christmas sah, was vom Stuhl und von Pep übrig war. Mitten in der Metzgerei, mit dem verbogenen Stuhlrahmen verschmolzen, ein verdorrter Klumpen Fleisch, der nichts mehr mit dem gutmütigen Riesen zu tun hatte, der er zu Lebzeiten gewesen war.
    »Sie haben ihn mit Draht an den Stuhl gefesselt«, erklärte ein Polizist seinem Kollegen. »Hätten sie ein Seil benutzt, wäre es verbrannt, und der arme Kerl hätte sich vielleicht retten können.«
    Wieder schrie Peps Frau auf. Dann musste sie husten. Ihre Knie gaben nach. Ihr Sohn wollte sie wegführen, doch sie stemmte sich gegen ihn und schrie gellend: »Nein!«
    Alles Gute zum Geburtstag, dachte Christmas.
    »Lass uns abhauen«, wisperte ihm Joey ins Ohr. »Ich war einkaufen.«
    Christmas drehte sich zu ihm um. Joeys Augen schienen noch tiefer in den Höhlen zu liegen, wie in einem Moor oder in dunklem Treibsand, der langsam seinen Blick verschlang. Und als Christmas sich in diesen Pupillen, die nicht mehr die eines Jungen waren, gespiegelt sah, erkannte er sich aufs Neue nicht wieder. Hastig schaute er weg, um den Fragen – und, mehr noch, den Antworten – nicht die Zeit zu geben, sich in ihm zu konkretisieren. Mit einem Mal sehnte er sich verzweifelt nach Santo, den er schon seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Beinahe war ihm nach Lachen zumute, als er an Santos pickliges Gesicht zurückdachte, an seine Gutgläubigkeit, an die Angst, die ihm die Stimme versagen ließ. An die Pickelcreme, die sie Pep aufgeschwatzt hatten für ...
    Christmas riss die Augen auf. Was war mit Lilliput passiert? Er schlüpfte an dem Polizisten, der ihn aufzuhalten versuchte, vorbei und gelangte bis an die noch immer glühende Ladentür, durch die ihm feuchtheiße, beißende Luft entgegenschlug. Suchend ließ er den Blick über das verbrannte Fleisch schweifen.
    Der rothaarige Polizist packte ihn am Arm und zog ihn zurück. Ohne zu wissen, was er sagen oder fragen sollte, sah Christmas hinüber zu Peps Sohn.
    »Warten Sie«, sagte da die Witwe zu dem Polizisten. »Hast du meinen Pep gekannt, Junge?«
    »Ja, Ma’am.«
    »Wie heißt du?«
    »Christmas.«
    Für einen Moment meinte er, hinter alldem Schmerz im Gesicht der Frau eine glückliche Erinnerung aufblitzen zu sehen. »Du bist der Junge, den Pep von der Straße fernhalten wollte, hab ich recht?«
    Christmas versetzte es einen Stich in die Magengrube. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sie irren sich ... Sie müssen mich mit jemandem verwechseln ...«
    Die Witwe musterte ihn von Kopf bis Fuß. Mit einer innigen Vertrautheit, die Christmas unvorbereitet traf, strich sie ihm über den Kragen des Jacketts. »Ein schöner Anzug«, sagte sie leise. »Hast du gesehen, was sie mit ihm gemacht haben, Christmas?« Dann wandte sie sich ab.
    Regungslos blieb er stehen. Der rothaarige Polizist zog ihn hinüber zur Menge der Schaulustigen. »Und Lilliput?«, rief Christmas der Frau hinterher.
    Signora LoGiudice nahm ihn gar nicht mehr wahr. Peps Sohn jedoch drehte sich zu Christmas um. »Sie ist letztes Jahr gestorben. An Altersschwäche«, erklärte er.
    Die Witwe blickte zu ihrem Sohn auf, als sähe sie wieder Pep vor sich, und streichelte ihm über das Gesicht. Und unwillkürlich senkte sich ihr Blick hinab zu seinen Füßen, als suchte sie nach der hässlichen kleinen, räudigen Hündin mit den vorstehenden Augen, die Pep so geliebt hatte. Abermals zuckte sie schluchzend zusammen. Tränen standen in ihren Augen, als sie erneut zu Christmas herüberschaute. »Hast du gesehen, was sie mit ihm gemacht haben?«, sagte sie wieder. Ihr Blick war ins Leere gerichtet, und ihre Frage war an niemanden im Besonderen

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