Der Junge, der Träume schenkte
Tisch nennen, und deine Flapper ... die Hände, mein Freund, nicht die Frauen von heute, die ihr Haar so kurz tragen wie Louise Brooks ... deine Flapper jedenfalls fangen an, die Bücher des Teufels , die Spielkarten, zu mischen, und in null Komma nichts ziehst du ein Freitagsgesicht , schaust also finster drein, dann verspielst du auch noch die
Querflöte , deine Stiefel, versuchst es mit einem Raubüberfall und bist im nächsten Augenblick ein Kanarienvogel in der Zelle und landest schließlich im Rahmen , also am Galgen ...«
»Sensationell«, sagte Karl im finsteren Regieraum leise.
Cyril griff nach Marias Hand, die sie die ganze Zeit nicht von seiner Schulter genommen hatte, und drückte sie. »So ist er auch unten im Lager. Nicht eine Sekunde hält er den Mund. Er treibt mich in den Wahnsinn«, sagte er, doch in seiner Stimme klang Stolz mit.
Der Tontechniker lachte. »Heilige Scheiße, woher weiß er das nur alles?«, fragte er und setzte sogleich hinzu: »Verzeihen Sie, Sir, ich habe mich mitreißen lassen.«
»Schneidest du mit?«, erkundigte sich Karl leise.
»Ja«, antwortete der Tontechniker, noch immer lachend.
»Psst«, zischte Maria.
»Tja, es ist spät geworden, New York ...« Christmas’ warme Stimme erfüllte mit ihrem strahlenden Unterton den in Dunkelheit getauchten Regieraum. »Aber ich komme wieder. Jetzt wartet meine Gang auf mich. Die Diamond Dogs, von denen habt ihr schon gehört, nicht wahr? Ja, wir sind berühmt, und deshalb kenne ich mich in diesen Dingen auch so gut aus. Und ich werde euch Flachen alles beibringen, vielleicht werdet ihr ja eines Tages selbst ein Teil der Gang. Spitzt gut die Ohren. Jeden Winkel unserer Stadt werde ich euch enthüllen und euch an der Hand mit in die finstersten Gassen nehmen ... wo das Leben pulsiert, vor dem ihr euch fürchtet ... und das euch am meisten fasziniert.« Er hielt kurz inne und sagte schließlich: »Gute Nacht, New York ...«
Stille senkte sich herab.
Gute Nacht, Ruth, dachte Christmas.
Dann ging das Licht wieder an, und Christmas sah hinter der Scheibe die Gesichter seiner vier Zuhörer vor Begeisterung strahlen.
Maria kam aus dem Regieraum gelaufen und fiel ihm um den Hals. »Bravo, bravo, bravo«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Auch Cyril erschien im Saal und trat stolz und verlegen zugleich von einem Bein aufs andere, ohne jedoch die richtigen Worte zu finden.
»Ich muss das zuerst mit der Geschäftsleitung besprechen«, sagte Karl, während er ihm die Hand schüttelte, »aber du bist ... So ein Programm hat noch keiner je gemacht.«
»Keiner«, bekräftigte Cyril bewegt.
»Wie lange kannst du so weitermachen?«, wollte Karl wissen.
»Weitermachen?«, fragte Christmas verwirrt. Er war von einer seltsamen Mischung aus Euphorie und Wehmut ergriffen, als müsste er zugleich lachen und weinen.
»Wie viele Geschichten kannst du erzählen?«
Christmas drückte Marias Hand. »Genug für ein ganzes Leben«, erwiderte er. »Und wenn ich keine mehr habe, denke ich mir einfach neue aus.«
»Du bist gut«, lobte der Tontechniker.
»Danke«, antwortete Christmas, der nun nur noch allein sein wollte.
»So ein Programm hat noch keiner je gemacht«, sagte Karl erneut, als spräche er mit sich selbst.
44
Los Angeles, 1927
Das Mädchen stand mitten am Set und sah sich verwirrt um. Die Halle lag im Dunkeln. Nur eine vom Deckengerüst herabhängende Lampe warf einen matten, unscharf begrenzten Lichtkegel auf die Kulissenmitte. Äußerst wirklichkeitsgetreu bildete die Szenerie die Waschküche eines ärmlichen Mietshauses nach. Eine morsche alte Tür auf der linken Seite der hinteren Kulissenwand führte in den Raum. Rechts der Tür drei große Waschtröge. Als befände sich die Waschküche im Keller des Hauses, erstreckten sich hoch oben an den Seitenwänden zwei lange, schmale Fenster, hinter denen zwei Kameras versteckt waren. In Mannshöhe hinter der Rückwand, zwischen zwei Waschtrögen, beobachtete eine dritte Kamera die Szene durch einen falschen Luftabzug. Anders als an anderen Filmsets üblich – wo es keine vierte Wand gab, um ungehinderte Aufnahmen zu ermöglichen –, war die Szenerie mit einem zwischen zwei Eisenpfosten gespannten Metallgitter verschlossen. Seitlich hinter dem Gitter, in ausreichendem Abstand, damit sie nicht in den Aufnahmewinkel der Kamera zwischen den beiden Waschtrögen gerieten, zwei Kameras für die Schrägeinstellungen. Alle fünf Kameras würden auf das Kommando des Regisseurs hin gleichzeitig
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