Der Junge, der Träume schenkte
und er unter sich, trat ein breites, wohlmeinendes Lächeln auf sein vernarbtes Gesicht. »Komm, gehen wir was essen und reden übers Geschäft«, sagte er. Er legte Bill den Arm um die Schulter. »Aus dir mache ich einen Star.«
43
Manhattan, 1927
»Fang an, wann immer du willst«, sagte Karl Jarach durch die Gegensprechanlage.
Christmas blickte durch die Glasscheibe in den Regieraum, aus dem der Abteilungsleiter von N. Y. Broadcast, der Tontechniker, Maria und Cyril, die Christmas gebeten hatte, dabei zu sein, schweigend zu ihm herausschauten. Er versuchte, Maria und Cyril ein Lächeln zu schenken. Aber es wurde nur eine Grimasse daraus. Seine Lippen waren wie ausgetrocknet. Er war angespannt.
»Wann immer du willst«, sagte Karl noch einmal.
Christmas nickte. Mit einer Hand griff er nach dem Mikrofon und klammerte sich daran fest. Seine Hand war schweißnass.
»Guten Abend, New York ...«, hob er verunsichert an.
Er blickte auf. Maria sah ihn besorgt an und kaute an ihrem Fingernagel. Cyril wirkte gleichmütig, aber Christmas entging nicht, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.
»Guten Abend, New York ...«, sagte er erneut mit nur halbherzig launiger Stimme. »Ich bin der Anführer der Diamond Dogs und möchte euch ein paar Geschichten erzählen, die ...« Er stockte. »Nein, zuerst muss ich euch erklären, wer die Diamond Dogs sind. Die Diamond Dogs sind eine Gang, und ich, ich meine, wir ... wir sind ...« Wieder blickte er hinüber zu Maria.
Sie nickte ihm lächelnd zu. Fröhlichkeit aber war in ihren schwarzen Augen nicht zu erkennen. Und Cyril machte ihm mit erhobenen Fäusten Mut. Du schaffst es, las Christmas ihm von den Lippen ab.
»So kommt es, dass ich eine Menge Geheimnisse kenne«, hob Christmas wieder an. »Die Geheimnisse der engen Gassen, der Lower East Side, des Bloody Angle in Chinatown, die Geheimnisse Brooklyns ... und die von Blackwell’s Island und aus Sing-Sing. Ich bin nämlich ... ich bin ein harter Kerl ... Wisst ihr, was ich meine? Ich bin einer von denen ...« Erneut brach Christmas ab.
Das Atmen fiel ihm schwer. Nun, da er nur noch einen Schritt von seinem Traum entfernt war, begann er zu stottern. Nun, da seine große Chance zum Greifen nah lag, fühlte sich sein Magen an wie zugeschnürt, wie in einem Schraubstock. Seine Lungen kamen ihm vor wie zwei nasse Lappen, die man ausgewrungen und verknotet hatte. Und aus den Blicken, die Maria und Cyril ihm zuwarfen, konnte er lesen, dass auch sie immer nervöser wurden. Vielleicht waren sie auch ein wenig enttäuscht, enttäuscht wie er. Enttäuscht und ängstlich.
Mit einer wütenden Geste stieß er das Mikrofon von sich. Ich schaff ’s nicht, dachte er.
»Fang noch einmal neu an«, ertönte Karl Jarachs Stimme aus der Sprechanlage. »In aller Ruhe.«
»Unten im Lager bist du nicht eine Sekunde still«, brummte Cyril.
Christmas hob den Blick und lachte gezwungen.
»Fangen wir noch einmal an«, sagte Karl wieder.
Christmas zog das Mikrofon zu sich heran. Das Engegefühl in Magen und Lungen wollte einfach nicht nachlassen. »Hallo, New York ...« Er schwieg kurz, bevor er vom Stuhl aufsprang. »Tut mir leid, Sir, ich schaff ’s nicht«, erklärte er hörbar enttäuscht und ließ den Kopf hängen.
Cyril wandte sich an Karl. »Lassen Sie mich mit ihm reden.«
Karl Jarach nickte.
Cyril wandte sich zur Tür des Regieraums.
»Warten Sie«, hielt Karl ihn auf. »Moment ...« Dann wandte er sich an den Tontechniker. »Schalte alle Lichter aus.«
»Im Saal?«
»Im Saal und hier«, erwiderte Karl ungeduldig.
»Dann sieht man ja nichts mehr«, protestierte der Tontechniker.
»Aus, habe ich gesagt!«, brüllte Karl.
Der Tontechniker gehorchte. Dunkelheit legte sich über das Studio.
Und im Dunkeln krächzte Karls Stimme durch die Sprechanlage: »Noch ein letztes Mal, Christmas.« Kurze Stille. »Spiel einfach.« Kurze Stille. »Wie letzte Nacht.«
Regungslos stand Christmas da. Spiel einfach, wiederholte er für sich selbst. Dann setzte er sich langsam hin. Er tastete nach dem Mikrofon und atmete ein und aus. Ein, zwei, drei Mal. Dann schloss er die Augen und lauschte auf das gespannte Schweigen des Publikums, wie im Theater ...
»Hoch mit dem Lappen!«, schrie er urplötzlich mit frecher Stimme.
»Was hat er denn jetzt?«, fragte der Tontechniker in die Dunkelheit hinein.
Karl seufzte. »Ruhe!«
Maria klammerte sich mit einer Hand an Cyrils Schulter.
»Hoch mit diesem Lappen!«, schrie Christmas wieder. Er
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